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Umstrittene Hauptschulen:"Ich arbeite nicht mit Resten, sondern mit Begabungen"

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Hauptschule abschaffen - ja oder nein? Die CDU entscheidet heute über ihren künftigen Kurs in der Bildungspolitik. In Augsburg stemmen sich Lehrer derweil gegen das schlechte Image der sogenannten "Restschule" - und bemühen sich, auch die schwächsten Kinder bestmöglich zu fördern.

Johann Osel

Es wird noch eine gute halbe Stunde dauern, bis der Geruch von frischem Gebäck durch die Schulküche zieht, erst einmal ist Handwerk gefragt. Bäckermeister Hansjörg Knoll, stilecht mit weißer Mütze und Schürze, hat den Teig mitgebracht, in langen Schlangen liegt dieser vor den Schülern der achten Klasse.

"Zöpfle" werden heute gebacken beim Praxistag an der Augsburger Werner-von-Siemens-Schule, erklärt der Bäcker in seinem Schwäbisch und malt an die Tafel, wie das Knoten funktioniert.

Serkan, Jasmin, Fethulla und die anderen, 13 bis 15 Jahre alt, legen los. "Ruhig ein Stückle länger rollen", insistiert Herr Knoll, "dem Teig tut's nicht weh; aber nicht zu spitzig oder bauchig." Teils etwas schief, aber respektabel sind am Ende die Zöpfe. Bepinseln, Sesam darauf und ab ins Backrohr - "schön das Türle zumachen", mahnt Knoll noch.

Der Praxistag ist eine von vielen Aktionen an der Schule, bei denen die jungen Leute Anschluss an die Berufswelt finden sollen. Die Werner-von-Siemens-Schule ist eine Mittelschule, so heißen inzwischen die meisten bayerischen Hauptschulen nach der Aufwertung durch mehr Berufspraxis und durch fixe Chancen auf die mittlere Reife.

Es ist jene Schulart, die selten positive Meldungen bringt. Auch die CDU, lange Verfechter des dreigliedrigen Systems, räumt ihr keine Zukunft mehr ein; der Leitantrag zum Parteitag in Leipzig jedenfalls empfiehlt die Fusion von Haupt- und Realschulen zu sogenannten Oberschulen.

Die Rede vom Niedergang der Hauptschulen ist nicht ungerechtfertigt. Sie verschwinden langsam von der Bildfläche: In Ländern wie Schleswig-Holstein oder Berlin fusionierten sie mit den Realschulen, im Osten Deutschlands sind sie ohnehin unbekannt. Und dort, wo es sie noch gibt, verdienen sie das "Haupt" im Namen meistens nicht mehr. Nur noch 17 Prozent der Achtklässler bundesweit gehen zur Hauptschule, in Bayern sind es noch gut 30.

Abstimmung mit den Füßen

Einerseits verstärken die geburtenschwachen Jahrgänge den Trend, andererseits verlieren Hauptschulen die "Abstimmung mit den Füßen". Viele Eltern, gerade in den Städten, wollen ihr Kind vor dieser Schulform bewahren. Übrig bleiben oft Einrichtungen für die Leistungsschwächsten - Stempel "Restschule".

Das hört Gerhard Steiner, Rektor der Augsburger Schule, gar nicht gern. Der Schulleiter ist ein liebenswürdig-väterlicher Typ, doch bei dem Begriff wird er resolut: "Ich arbeite definitiv nicht mit Resten, sondern mit Begabungen." Das "Haupt" im Namen verdient auch seine Schule kaum, bei bis zu zwei Drittel liegt im Ortsteil Hochzoll die Übertrittsquote aufs Gymnasium nach der vierten Klasse.

Sechzig Prozent seiner Schüler haben einen Migrationshintergrund, ein Viertel zählt zu den Klienten der Jugendhilfe. Neben gediegenen Milieus gibt es in der Nachbarschaft eine Siedlung mit vielen sozial benachteiligten Familien. Wie die Abstimmung mit den Füßen hier verläuft, ist klar. Allerdings, sagt Steiner, kann er durchaus Vertrauen bilden bei Eltern durch den Ruf der Schule.

Das hängt nicht mit der Stadtmeisterschaft im Tischtennis zusammen, bei der seine Schüler jüngst siegten, sondern damit, dass die Schule bereits mehrmals geehrt wurde für ihre Berufsqualifizierung, etwa beim Wettbewerb "Starke Schule", den die Bundesagentur für Arbeit, Arbeitgeberverbände und Stiftungen ausschreiben.

Vor einem halben Jahr nun hat eine CDU-Kommission unter der Ägide von Bundesbildungsministerin Annette Schavan ein Konzeptpapier erstellt. Haupt- und Realschulen sollen bundesweit verschmelzen. Während norddeutsche CDU-Landesverbände applaudierten (dort ist ein zweigliedriges System Standard), kam Kritik etwa aus Baden-Württemberg, wo Schavan selbst lange Kultusministerin war.

Kein Verständnis erntete sie in der Schwesterpartei CSU. Der Antrag für den CDU-Parteitag an diesem Dienstag wurde daher verwässert: Die Oberschule ist nur noch als "wünschenswerte" Option vorgesehen. Aus der Reform wurde ein Reförmchen - mit Bestandsschutz für die Hauptschule und allen Freiheiten für die Länder, das Chaos unzähliger Schularten weiterzubetreiben.

Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann etwa sieht im Zwei-Wege-Modell auch eine Stärkung nichtakademischer Berufe. Dem Gymnasium, das in Städten zahlenmäßig die wahre "Hauptschule" sei, fehle der Praxisbezug. "Es wird höchste Zeit, dass wir eine starke Alternative bekommen, nicht zuletzt für künftige Handwerker. Die jetzige Hauptschule kann das nicht schaffen."

Der Augsburger Schulleiter Steiner sieht die Fusion von Haupt- und Realschulen mit Skepsis. Nicht aus parteipolitischen Gründen, sondern aus 40 Jahren Berufserfahrung. Alle "Begabungsfacetten" könne man in solch einem Konstrukt kaum abdecken; schon jetzt sei es ein Spagat, die Kinder mit Potential für weiterführende Schulen zu fördern und gleichzeitig den Abgehängten Chancen zu geben.

Unter seinem Dach funktioniere das: Jeder Schüler absolviert regelmäßig Tests in den "Kernkompetenzen", so wüssten die Lehrer genau, wo in Mathe oder Deutsch die Schwächen liegen und könnten daran arbeiten.

Lernen mit "Aha"-Effekt

Ein Blick in den PC-Raum, Matheunterricht neunte Klasse, zeigt: Fast auf jedem Monitor läuft eine andere Übung - Dezimalzahlen, Division und anderes, je nach Stärken und Defiziten. Lehrer haben das System in ihrer Freizeit programmiert.

Für eine Großstadtschule kann sich Steiners Bilanz sehen lassen: Nur zwei Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss. Ein Viertel der Schüler hat einen ehrenamtlichen Mentor; von ihnen schafft fast jeder den qualifizierten Hauptschulabschluss, bekommt eine Lehrstelle oder hängt die mittlere Reife an. Von den Schülern ohne Mentor finden in der Regel mindestens zwei Drittel gleich einen Ausbildungsplatz.

Wolfgang Schreck, ein 65-jähriger Ingenieur, kümmert sich um drei Kinder. Da wird in Absprache mit den Lehrern geübt, Bruchrechnen, Lesen, Bewerbungen schreiben. "Es geht auch um Dinge, die früher im Elternhaus selbstverständlich vermittelt wurden", so Schreck.

Manchmal erklärt er Schülern, was netto und brutto heißt, rechnet mit ihnen mögliche Verdienste durch. Schreck erkennt "einen Aha-Effekt", die Schüler "sehen, was sie sich leisten können, wenn sie Leistung bringen".

Leistung haben der Augsburger Schüler Ivan und seine Kameradinnen Doreen und Iman schon gebracht und im vergangenen Sommer ihren "Quali" gemacht, nun steht die mittlere Reife an. Ihre Ziele: Das Praktikum im Kindergarten hat Doreen nicht so gut gefallen, das in der Apotheke schon, womöglich wird es eine Ausbildung dort.

Schulart egal - Niveau entscheidet

Iman möchte später auf die Fachoberschule, Abitur nachholen, studieren. Medizin, dachte sie anfangs, aber die Recherche mit ihrem Mentor hat ergeben, dass das Studium "total lang und schwer" sei. Ivan will Polizist werden wie sein Onkel, oder Dolmetscher. Deutsch, Englisch und Kroatisch, die Sprache seiner Eltern, kann er schon.

Die Debatte um die Hauptschule bekommen die drei durchaus mit. "Wir werden oft unterschätzt, die Leute hören Hauptschule, aber wissen nicht, wie es in der Schule drin aussieht", meint Ivan. Iman sagt, so schlecht könne die Hauptschule nicht sein, ihre Schwestern hätten doch Lehrstellen bekommen. "Und es gibt auch schlechte Realschüler, wichtig ist, was man kann."

Das meint auch Otto Kentzler, Präsident des Deutschen Handwerks. "Die Schulstruktur ist für uns nicht so entscheidend. Das Niveau muss stimmen." Gerade hier seien die Defizite zu groß. Herr Knoll, der "Zöpfle"-Dozent aus der Schulküche, sieht die Sache pragmatisch.

Sechs bis acht Lehrlinge bildet seine Bäckerei aus, auch Werner-von-Siemens-Schüler. Es brauche Motivation und Disziplin, wenn der Wecker nachts klingelt. "Dann ist es egal, ob in Deutsch ein Dreier oder Vierer im Zeugnis steht, große Reden muss man in der Backstube nicht halten."

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Quelle:
SZ vom 15.11.2011
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