Übertritt aufs Gymnasium:Mit Leistungsdruck in die Elite

Jeder will mitreden: Wenn es darum geht, ob Kinder von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln, setzen sich oft die Eltern durch. Nicht immer wird gerecht entschieden.

Tanjev Schultz

Für den Übertritt von der Grundschule auf ein Gymnasium hat jedes Bundesland eigene Regeln. Vielerorts laufen derzeit die Anmeldungen, in Nordrhein-Westfalen ragt das Thema in den Wahlkampf hinein. Die SPD verspricht dort, im Falle eines Wahlsiegs die verbindlichen Übertrittsgutachten abzuschaffen.

Der Grundschulverband und Politiker der Grünen kritisieren die Prognosen der Lehrer für die richtige Schulform als "staatlich verordnete Hellseherei". Am Donnerstag werden die Kultusminister aller 16 Länder einen Überblick über den Stand der Forschung erhalten; Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wird ihnen die Ergebnisse einer neuen Studie vorstellen. Zentrale Fragen und Antworten dokumentiert die Süddeutsche Zeitung:

Wer entscheidet, ob es ein Kindaufs Gymnasium schafft?

Grundsätzlich sollen Eltern und Lehrer bei der Entscheidung zusammenwirken.

In etwa der Hälfte der Bundesländer können sich die Eltern jedoch über den Rat der Lehrer hinwegsetzen und ihr Kind auch aufs Gymnasium schicken, wenn die Lehrer zum Beispiel eine Realschule empfehlen. In den anderen Ländern sind die Gutachten der Schulen verbindlich, teils gibt es Notengrenzen. Bayern verlangt einen Schnitt von mindestens 2,33 in den Hauptfächern für eine Gymnasialempfehlung.

Wenn Eltern mit dem Ergebnis hadern, können ihre Kinder an einem Probeunterricht oder an Tests teilnehmen und so eventuell doch noch die gewünschte Schulform erreichen. In Hamburg wollte der Senat den Elternwillen einschränken, rudert jetzt aber zurück. Im Saarland hat die Jamaika-Koalition die zuvor verbindlichen Übergangsgutachten abgeschafft. Bundesweit hat fast jeder sechste Schüler, der ein Gymnasium besucht, für dieses keine Empfehlung erhalten.

Haben es Kinder von Akademikern leichter, aufs Gymnasium zu kommen?

Statistisch gesehen auf jeden Fall. Forscher unterscheiden dabei sogenannte primäre und sekundäre Herkunftseffekte. Als primärer Effekt gilt, dass Kinder von Akademikern, da sie meist in der Familie gut gefördert werden, bessere Leistungen zeigen als andere Kinder. Als sekundären Effekt bezeichnen die Forscher Einflüsse der Herkunft, die unabhängig von den Leistungen sind.

Selbst bei gleicher Intelligenz und gleicher Lesekompetenz ist die Chance eines Schülers aus der Oberschicht, verglichen mit dem Kind eines Facharbeiters, 2,6 mal so hoch, vom Lehrer fürs Gymnasium empfohlen zu werden (ein Befund der "Iglu-Studie"). Und laut der Expertise des Teams um Jürgen Baumert sind bei gleicher Übertrittsempfehlung die Chancen eines Kindes aus der Oberschicht, aufs Gymnasium zu wechseln, um mehr als 60 Prozent größer als die eines Kindes aus der Mittelschicht.

Bei Akademikern ist der Wunsch stark, dass ihr Kind das Abitur schafft. Länder, in denen die Eltern frei über die Schulform entscheiden können, verstärken daher den Einfluss der sozialen Herkunft - ein Ergebnis, das vor allem für Sozialdemokraten schmerzhaft ist, die verbindliche Gutachten traditionell eher ablehnen, weil diese zu ungesundem Leistungsdruck führen würden.

Werden Migranten benachteiligt?

Dafür gibt es wenige Anhaltspunkte. Zwar schaffen es nur wenige Kinder von Migranten aufs Gymnasium, das hängt aber offenbar vor allem mit dem sozialen Status und unzureichenden Leistungen zusammen. Bei vergleichbaren Kompetenzen haben Kinder von Migranten, vor allem von Türken, sogar höhere Chancen, ein Gymnasium zu besuchen. Baumerts Team erklärt dies damit, dass in vielen türkischen Familien der Wunsch nach höherer Bildung sehr hoch ist.

Wie objektiv sind Noten, wie solide die Übertrittsempfehlungen der Lehrer?

Studien zeigen, dass Lehrerurteile im Großen und Ganzen zwar stimmig sind und mit standardisierten Tests der Schülerleistungen halbwegs übereinstimmen. Es gibt aber viele strittige Fälle. Zum Teil liegt das daran, dass Lehrer sich ein Gesamtbild von den Kindern machen und auch Motivation, Fleiß und soziale Kompetenzen mit einfließen lassen. Nicht auszuschließen ist, dass sie sich von der sozialen Herkunft eines Kindes beeindrucken lassen.

Gut belegt ist außerdem, dass sich Lehrer bei der Notengebung an den mittleren Schulleistungen in der Klasse orientieren. Wenn die Klasse insgesamt sehr leistungsstark ist, haben es die Schüler deshalb schwerer, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen.

Sind die Schulen anspruchsvoller in Bundesländern, die den Elternwillen einschränken?

Nicht unbedingt. Es gibt auch innerhalb eines Landes starke Unterschiede. Bei den Pisa-Tests liegen Bundesländer mit verbindlichen Empfehlungen vorne. Betrachtet man nur die Gymnasiasten, schneiden aber auch Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein recht gut ab; dort ist der Elternwille entscheidend.

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