Überstunden:"Wer pünktlich geht, macht sich überflüssig"

In vielen Branchen ist unbezahlte Mehrarbeit selbstverständlich. Martina Perreng, Juristin beim Deutschen Gewerkschaftsbund, über die freiwillige Selbstausbeutung.

Isa Hoffinger

Mehr als fünfzig bezahlte Überstunden hat der deutsche Arbeitnehmer im Schnitt im vergangenen Jahr geleistet. Die Zahl der tatsächlichen Überstunden ist mindestens doppelt so hoch, denn in vielen Branchen ist unbezahlte Mehrarbeit üblich. Arbeitgeber sehen darin ein Zeichen des Wirtschaftswachstums. Martina Perreng, Juristin beim Deutschen Gewerkschaftsbund, betrachtet die Entwicklung eher kritisch.

Martina Perreng

Juristin Martina Perreng: "Wer hofft, einen festen Vertrag zu bekommen, nimmt Zumutungen in Kauf:"

(Foto: Foto: Privat)

SZ: Sind Überstunden heute in den meisten Unternehmen nicht normal?

Martina Perreng: Gerade neuen Mitarbeitern und Berufseinsteigern wird suggeriert, dass Überstunden selbstverständlich seien. In vielen Verträgen steht, dass alle Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind. Wer froh ist, eine Stelle gefunden zu haben, wird solche Klauseln akzeptieren, obwohl sie dem Transparenzgebot widersprechen. Nicht normal ist, dass Beschäftigte durch Überstunden ihr Gehalt aufbessern müssen, um überhaupt anständig leben zu können.

SZ: Welche Rolle spielt die Flexibilisierung der Arbeitszeit?

Perreng: In der Softwareentwicklung oder im Bereich Multimedia liegen Gleitzeit oder sogenannte Vertrauensarbeitszeit im Trend. Die Folge ist häufig ein höherer innerbetrieblicher Wettbewerb. Nur wer freiwillig länger bleibt, gilt als engagiert. Wer dagegen pünktlich geht, macht sich tendenziell überflüssig. Viele Überstunden, die eigentlich bezahlt werden müssten, fallen so unter den Tisch.

SZ: Wie sinnvoll sind Arbeitszeitkonten?

Perreng: Durch die Verlängerung der Arbeitszeit auf 67 Jahre nimmt die Bedeutung von Langzeitkonten, auf denen Zeit gespart wird, um früher in Rente zu gehen, zu. Problematisch ist, dass die Beschäftigten oft nicht frei über ihre angesparte Zeit verfügen können und viele Konten nur für die betriebliche Flexibilität genutzt werden. Wer hundert oder mehr Stunden auf einem Jahreskonto angesammelt hat, kann diese oft nicht abfeiern. Außerdem sind viele Konten nicht gegen Insolvenz gesichert.

SZ: Das Arbeitszeitgesetz regelt, dass maximal zehn Stunden am Tag gearbeitet werden darf. Bietet es genug Schutz?

Perreng: Verstöße gegen das Gesetz sind nur schwer zu ahnden, denn welcher Arbeitnehmer zeigt schon seinen Arbeitgeber an? Es wäre zu begrüßen, wenn das Gesetz Überstunden generell verbieten oder zumindest eine Höchstgrenze bei Mehrarbeit bestimmen würde, etwa nicht mehr als zehn Stunden im Monat.

SZ: Wie kann man sich wehren?

"Wer pünktlich geht, macht sich überflüssig"

Perreng: Um sich zu wehren, fehlt Arbeitnehmern die Marktmacht. Meist reichen sie erst nach einer Kündigung eine Lohnklage ein. Sie müssen nachweisen, an welchen Tagen sie wie lange gearbeitet haben und dass der Chef die Mehrarbeit billigend in Kauf genommen hat.

SZ: Führungskräfte machen nachweislich viele Überstunden. Trotzdem ist ihre Arbeitszufriedenheit hoch. Wieso?

Perreng: Die Bereitschaft zu Mehrarbeit ist größer, je anspruchsvoller die Aufgaben sind und je höher das Gehalt ist. Grundsätzlich herrscht ein gesellschaftliches Klima, in dem der einzelne als Lebensmanager betrachtet wird: Sein Wert hängt davon ab, wie viel er in allen Lebensbereichen auf die Reihe kriegt.

SZ: Wohin geht die Entwicklung?

Perreng: Es gibt die Tendenz, immer mehr Risiken auf Beschäftigte abzuwälzen. Durch Outsourcing-Prozesse, nach denen frühere Arbeitnehmer nun als Selbständige beschäftigt werden, ist nicht mehr der Arbeitgeber dafür verantwortlich, dass die Arbeit in einer bestimmten Zeit erledigt wird, sondern der Subunternehmer. Dazu kommen immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse. Wer hofft, einen festen Vertrag zu bekommen, nimmt Zumutungen in Kauf. Aber Beschäftigte sind keine Maschinen, und der Erhalt ihrer Gesundheit ist auch wertvoll für den Arbeitgeber.

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