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Übernahmechancen für Fachkräfte:Viele Leiharbeiter bleiben "kleben"

Fachkräfte sind derzeit heißbegehrt. Viele Arbeitgeber lassen Leiharbeiter daher nicht weiterziehen, sondern stellen sie ein. 30 bis 35 Prozent aller Zeitarbeiter werden derzeit von den Firmen übernommen - so viele wie nie zuvor.

Sibylle Haas

Die deutsche Wirtschaft muss mit erheblichen Einbußen rechnen, wenn sie den Fachkräftemangel nicht bewältigt. Nur wenn es gelingt, ältere Arbeitnehmer und Frauen stärker als bisher in Jobs zu bringen und zu halten, lassen sich Wohlstandsverluste vermeiden.

Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim hat errechnet, wie sich der demographische Wandel auf den Wohlstand in Deutschland auswirkt. Danach sinkt die Erwerbsbevölkerung bis 2025 um 2,5 Millionen Menschen. Momentan liegt sie bei etwa 42 Millionen.

Wenn es nicht gelinge, den Rückgang an Arbeitskräften auszugleichen, entstünden bis 2025 Wohlstandsverluste von 450 Milliarden Euro, warnt das ZEW. Das entspricht etwa der Größe des heutigen Bruttoinlandsprodukts von Bayern.

Um den Ausgleich zu schaffen, müssten die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen von derzeit 62,5 Prozent (Eurostat) auf 68,5 Prozent, die Erwerbsbeteiligung der Frauen von 70,8 auf 72,8 Prozent und die Vollzeitquote von Frauen von 55 auf 57 Prozent erhöht werden, schreiben die ZEW-Forscher.

Ältere Arbeitnehmer und Frauen gelten schon länger als die stille Reserve am Arbeitsmarkt. Ökonomen warnen davor, das Wissen gut ausgebildeter Frauen und erfahrener Älterer zu verschenken. Wer die Frauen und die Alten nicht arbeiten lasse, werde für sinkende Investitionen und sinkenden Konsum und damit für weniger oder gar kein Wachstum verantwortlich sein, das die schrumpfende Bevölkerung mit sich bringe.

Hoher Klebeeffekt

Der Fachkräftemangel ist bereits heute spürbar. Sehr deutlich merkt das die Zeitarbeitsbranche. Denn sie ist eine Art Frühindikator für den Arbeitsmarkt. Betriebe fangen mit Zeitarbeitnehmern Produktionsspitzen ab.

Sinkt die Auftragslage wieder, dann geben sie die Leiharbeiter an die Zeitarbeitsfirmen zurück. Bleibt die Auftragslage aber gut und hoch, dann werden viele Zeitarbeiter bei den Entleihfirmen eingestellt. Das ist momentan der Fall. Besonders im Auto- und Flugzeugbau.

Der Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP), in dem sich die Zeitarbeitsfirmen versammelt haben, spricht von einem lange nicht mehr dagewesenen "Klebeeffekt". So nennt man es, wenn Unternehmen Leiharbeiter als eigene Mitarbeiter fest übernehmen.

Die Übernahmequote ist nach BAP-Angaben mit 30 bis 35 Prozent so hoch wie noch nie. In normalen Zeiten liegt dieser Anteil bei 20 bis 25 Prozent. "Wir gehen davon aus, dass in diesem Jahr 200.000 bis 300.000 Zeitarbeitnehmer übernommen werden", schätzt BAP-Präsident Volker Enkerts.

Den Abschwung der deutschen Wirtschaft könne die Zeitarbeitsbranche nicht spüren, sagt Enkerts. Das Gegenteil sei der Fall. "Derzeit können wir 50.000 Stellen nicht besetzen und damit nicht alle Aufträge annehmen, die an uns herangetragen werden."

Die Zeitarbeitsfirmen hätten trotz des hohen "Klebeeffekts" die Zahl der Zeitarbeitnehmer gesteigert. "Dies zeigt die großartige Leistung unserer Branche für den Arbeitsmarkt und die Volkswirtschaft insgesamt", meint Enkerts.

Im Oktober, so die jüngsten Branchenzahlen, gab es 901.000 Leiharbeitnehmer in Deutschland. Das ist eine auf den ersten Blick bemerkenswert hohe Zahl. Und die schon länger angepeilte Millionenmarke ist damit in greifbarer Nähe. Doch die Branche hat eine lange Durststrecke hinter sich.

Sie wurde von der Finanz- und Wirtschaftskrise mit voller Wucht getroffen. Die Beschäftigung in der Zeitarbeit sank von 800.000 Mitarbeiter im August 2008 auf etwa 500.000 im Mai 2009. Zeitarbeiter waren die ersten, die in der Krise arbeitslos wurden. Jeder dritte Leiharbeiter verlor seinen Job.

Ingenieure - dringend gesucht

Heute geht es genau andersherum. Randstad, die in Deutschland größte Zeitarbeitsfirma, sucht händeringend IT-Experten. Doch auch Schweißer, Schlosser und technische Handwerker seien kaum zu finden. Randstad habe momentan mehr als 8000 freie Stellen in Deutschland, sagt eine Firmensprecherin. Das sei mehr als noch vor einigen Monaten. Besonders in den Ballungsgebieten sei kaum qualifiziertes Personal zu bekommen.

Auch beim Manpower heißt es, "Der Bedarf an Fachkräften wie Ingenieuren, IT- und Finanzfachleuten ist hoch." Gesucht werden auch Arbeitskräfte im Logistik- und Lagerbereich sowie im Büro, Call Center und Produktionsmitarbeiter.

Die Nachfrage nach Arbeitskräften bleibt insgesamt in fast allen Branchen hoch. Im November waren der Bundesagentur für Arbeit 492.000 offene Stellen gemeldet, 98.000 mehr als im Vorjahr.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2011/gal
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