Süddeutsche Zeitung

Überlastete Mediziner:Ärzte ziehen Grenzen

Zu viele Überstunden? Autoritäre Umgangsformen? Mancher Chefarzt vom alten Schlag reibt sich die Augen: Die jungen Assistenten kündigen einfach, wenn es ihnen zu viel wird. Sie brauchen nicht lange nach Alternativen zu suchen.

Christiane Siemann

Die jungen Assistenzärzte haben Macht: Ihr größter Hebel ist die Eigenkündigung. Das ist neu. Denn während vor 20 Jahren jeder Absolvent froh war, eine der wenigen Ausbildungsstellen im Krankenhaus zu bekommen, hat sich die Arbeitsmarktsituation inzwischen gedreht. Heute herrscht Ärztemangel, und viele Klinikchefs sind überglücklich, wenn sich Ärzte in Ausbildung entschließen, an ihrem Haus eine Stelle anzutreten. Doch wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, wechseln die jungen Mediziner kurz entschlossen die Klinik.

"Im vorigen Krankenhaus habe ich nach der Probezeit gekündigt. Der Chef hat gerade den Assistenten extrem viel Arbeit aufgedrückt. Wir mussten bis 21 Uhr und länger bleiben, hatten tagsüber keine Pausen, und ich musste jedes Wochenende arbeiten." Die 33 Jahre alte Assistenzärztin, im vierten Jahr ihrer Facharztausbildung für Innere Medizin, möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, auch wenn sie jetzt das Glück hat, in einer "Super-Klinik" zu arbeiten. Hier kann sie Überstunden aufschreiben und bekommt zum Ausgleich freie Tage. Während der frühere Chef autoritär war und "alle in Grund und Boden geschrien hat, wenn ein kleiner Fehler aufgetreten ist", berichtet sie nun von einem "freundlichen, fairen Chef und einer guten Supervision der Arbeit".

Da 42 Prozent der Assistenzärzte nach einer Umfrage des Marburger Bundes ihre Arbeitsbedingungen als "schlecht" oder "sehr schlecht" bewerten, verwundert es nicht, dass sie sich in vielen Internetblogs Luft machen. Hauptkritikpunkte sind Arbeitszeit und Arbeitsklima: "An meinem Haus machen wir Assis pro Monat acht Dienste, obwohl wir mit nur sechs Diensten eingestellt sind - davon arbeiten wir drei Wochenenden im Monat. Wir möchten irgendwie Druck machen, wie stellen wir das am besten an?" Die Antworten der Kollegen haben alle denselben Tenor: "Ihr solltet einfach zusammen zum Personalchef gehen und mit Kündigung drohen. Stellen gibt es genug!"

Zwar darf nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs die durchschnittliche Arbeitszeit von Ärzten 48 Stunden pro Woche inklusive der Bereitschaftsdienste nicht überschreiten, doch es sind Sondervereinbarungen ("Opt-out"-Regelung) möglich, und noch häufiger wird kritisiert, dass sich immer wieder Ober- und Chefärzte weigern, Überstundennachweise zu unterschreiben. Die Reaktionen Betroffener im Netz sind konsequent: "Wenn die nicht unterschreiben, dann mache ich auch keine Überstunden mehr." Oder: "Um 17 Uhr fällt der Hammer, und ich gehe nach Hause, weil die Mehrarbeit nicht bestätigt wird."

60 Prozent der Assistenzärzte berichten, dass die Höchstarbeitszeiten nicht eingehalten würden. Daher ist es wenig überraschend, dass sich die meisten weniger Arbeit und mehr Freizeit wünschen. Die klaglos hingenommene 60- bis 70-Stunden-Woche gehört der Vergangenheit an. Auch will die große Mehrheit der jungen Ärzte ihr Familien- und Berufsleben vereinbaren können. Doch machen nach wie vor 57 Prozent der Krankenhäuser laut Marburger Bund keine familienfreundlichen Angebote wie Kinderbetreuung oder Teilzeitarbeit, was gerade bei der "Feminisierung" des Arztberufes Probleme bereitet.

Personalchefs bezeichnen die Wünsche der Nachwuchsmediziner gerne als klassisches Generation-Y-Phänomen - als Merkmal der zwischen 1980 und 1990 Geborenen, die flache Hierarchien lieben und Selbstverwirklichung anstreben. Doch diese Interpretation ist aus Sicht einiger Krankenhausexperten abwegig. "Ärzte nutzen jetzt einfach ihre Marktposition und erzielen Höchstpreise für eine Festanstellung, einen Teilzeitjob oder sogar als selbständiger Leiharzt", sagt Bernd Mühlbauer, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen.

Die künstliche Verknappung von Ausbildungsplätzen für Ärzte durch die Bundesländer habe zu dieser Lage geführt, die weiterhin starke Regulierung durch den Numerus clausus sowie die altersbedingte Verrentung von Krankenhausärzten. Der allgemeine Ärztemangel, der sich noch weiter verschärfen werde, verschaffe dem Nachwuchs gute Bedingungen, um seine Forderungen durchzusetzen. Einige Kliniken locken schon mit Stipendien während des Studiums oder einem Tagesmutterservice, um junge Ärzte gewinnen und binden zu können.

Das gelingt nicht allen Krankenhäusern gleich gut, denn sie befinden sich in einem hochregulierten Markt unter Rahmenbedingungen, die wenig Freiheit zulassen. Trotz gleicher Rahmenbedingungen schaffen es jedoch manche Kliniken, Frustkündigungen der jungen Mediziner zu verhindern. "In diesen Häusern stimmt das Arbeitsklima. Die Chefärzte nehmen Klagen von Assistenten ernst und gehen qualifiziert damit um; sie stimmen sich ab und kommunizieren", erklärt Jörg Weidenhammer.

Der Arzt und Geschäftsführer der Asklepios Medical School in Hamburg schlussfolgert: "Die Raubeinigkeit in der Führungskultur, die bei manchen Chefärzten immer noch Standard ist, gehört einfach abgeschafft." Zufriedenheit als Arzt im Krankenhaus ist offensichtlich nicht nur ein Problem der Arbeitszeit. So betont die einst unzufriedene Assistenzärztin der Inneren Medizin, dass auch sie keinen Acht-Stunden-Tag habe, sie könne nicht mal eben den Stift fallen lassen. "Die Personaldecke ist einfach zu dünn, und ich möchte die Arbeit nicht auf die Kollegen schieben", sagt sie. Doch die Arbeitsatmosphäre und die Zusammenarbeit mit ihrem Chefarzt und den Kollegen seien wirklich gut. Aber: "Wenn ich eine Familie gründe und keine Teilzeitstelle in meinem Haus bekomme, kündige ich."

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SZ vom 13.10.2012/wolf
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