Türkisch-Unterricht:"Türkische Cliquen gibt es bei uns nicht"

Grünen-Chef Özdemir fordert mehr Türkisch-Unterricht. Ayfer Sengül-Loof, eine der wenigen Türkisch-Lehrerinnen, über Integration und Identität.

Julia Bönisch

Auf die Europaschule Gymnasium Hamm in Hamburg gehen Schüler aus 68 verschiedenen Nationen, sie hat einen Migrantenanteil von 60 Prozent. An der Schule ist schon möglich, was der Parteivorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, für viele Schulen in Deutschland fordert: Die Schüler haben die Möglichkeit, Türkisch zu lernen und auch ihr Abitur in der Sprache abzulegen. Ayfer Sengül-Loof kam selbst mit drei Jahren aus der Türkei nach Deutschland und unterrichtet heute 90 Schüler im Türkischen.

Türkisch-Unterricht, ddp

Türkisch-Unterricht: An einigen Schulen können Jugendliche schon heute ihr Abitur in der Sprache ablegen.

(Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Frau Sengül-Loof, was halten Sie von der Forderung des Grünen-Parteivorsitzenden, es müsse mehr Türkisch-Unterricht an deutschen Schulen geben?

Ayfer Sengül-Loof: Cem Özdemir hat völlig recht, wir brauchen mehr Türkisch-Unterricht. Ich war drei Jahre alt, als ich aus der Türkei nach Deutschland kam - und ich hätte gewünscht, damals von so einem Angebot profitieren zu können. Wir machen an unserer Schule die Erfahrung, dass der Türkisch-Unterricht die Jugendlichen weiterbringt. Auch deshalb schneiden unsere Schüler besser ab als der Hamburger Durchschnitt.

sueddeutsche.de: Warum ist es wichtig, dass türkischstämmige Kinder Türkisch-Unterricht erhalten?

Sengül-Loof: Beim Türkisch-Unterricht geht es nicht darum, die Kinder auf ein Leben in der Türkei vorzubereiten. Sie sind hier zu Hause, Deutschland ist ihre Heimat. Aber der Unterricht ist wichtig für ihre Identitätsbildung. Er hilft ihnen, so grundsätzliche Fragen zu beantworten wie "Wo komme ich her, wo gehöre ich hin?"

sueddeutsche.de: Können Sie das genauer erklären?

Sengül-Loof: Der Türkisch-Unterricht erleichtert in vielen Fällen das Zusammenleben in der Familie. Ich habe schon Mütter erlebt, die zu mir gesagt haben: "Endlich kann ich mich vernünftig mit meinem Kind unterhalten!" Denn wenn Eltern schlecht Deutsch und die Kinder schlecht Türkisch sprechen, fehlt die gemeinsame Basis. Das bestätigen auch die Schüler: Sie können ihren Eltern gegenüber endlich ihre Gefühle ausdrücken. Die Muttersprache ist einfach die emotionalere, weil wir in ihr viel mehr zu Hause sind.

sueddeutsche.de: Welches Angebot gibt es an Ihrer Schule genau?

Sengül-Loof: Wir bieten zwei Unterrichtsformen an: Türkisch als Herkunftssprache und Türkisch als dritte Fremdsprache. Wer die Sprache nicht so gut beherrscht, wählt sie als dritte Fremdsprache und wird dort gemeinsam mit anderen Kindern unterrichtet. Etwa zehn Prozent unserer Türkisch-Schüler sind Deutsche oder stammen aus einem ganz anderen Land.

sueddeutsche.de: Welche Motive haben türkische Kinder, die Sprache zu lernen, welche haben Deutsche?

Sengül-Loof: Auf der Straße hört man von türkischstämmigen Kindern häufig einen deutsch-türkischen Mischmasch, weil sie ihre Muttersprache nicht mehr richtig beherrschen. Sie wollen in ihrer eigenen Sprache sicherer werden. Dann gibt es Schüler, die zwar zu Hause in ihren Familien Türkisch sprechen, aber nicht so gut schreiben und lesen können und dieses Defizit beheben wollen. Deutsche Kinder entscheiden sich für die Sprache, weil sie türkische Freunde haben, die Türkei als Urlaubsland schätzen gelernt haben oder gute berufliche Entwicklungsmöglichkeiten sehen. In vielen Jobs ist es von Vorteil, Türkisch zu können, da auch ein Teil der Kundschaft oder Klientel türkisch ist.

Auf der nächsten Seite: Welche Inhalte hat der Türkisch-Unterricht, bilden sich deutsche und türkische Cliquen und welche Sprache wird in der Pause gesprochen?

"Türkische Cliquen gibt es bei uns nicht"

sueddeutsche.de: Wie läuft der Unterricht ab, wenn nicht alle Schüler die gleichen Voraussetzungen haben?

Sengül-Loof: Wir machen viel Gruppenarbeit, so dass die stärkeren die schwächeren Schüler unterstützen können. In den Prüfungen unterscheiden wir natürlich, ob ein Kind zu Hause Türkisch spricht oder aus einer deutschen, polnischen oder russischen Familie stammt.

sueddeutsche.de: Was sind die Inhalte des Unterrichts?

Sengül-Loof: Wir vermitteln natürlich nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch interkulturelle Bildung. Es geht etwa um die Rolle der Frau in der deutschen und in der türkischen Gesellschaft oder um die EU-Beitrittsbemühungen der Türkei. Wird im Deutschunterricht Bertolt Brecht besprochen, vergleichen wir ihn im Türkisch-Unterricht zum Beispiel mit dem Dichter Nazim Hikmet. Da können alle Schüler viel voneinander lernen.

sueddeutsche.de: Welche Sprache sprechen die Kinder in den Pausen? Vor einiger Zeit gab es den Vorschlag, dass auf Schulhöfen nur Deutsch geredet werden solle. Wie wird das an Ihrer Schule gehandhabt?

Sengül-Loof: Die Pause ist bei uns zur Erholung da, deshalb dürfen die Kinder sprechen, was sie wollen. Ich selbst werde von ihnen sowohl auf Deutsch, Türkisch als auch auf Englisch angesprochen, da ich auch Englisch unterrichte.

sueddeutsche.de: Gegner des Türkisch-Unterrichts warnen davor, dass solche Klassen nicht zu mehr, sondern zu weniger Integration führen: Anstatt gemeinsam zu lernen, säßen hier die deutschen Kinder, dort die türkischen.

Sengül-Loof: Solche Cliquenbildung beobachten wir bei uns nicht. Die Schüler suchen sich ihre Freunde nicht nach der Sprache, sondern nach Interesse und Sympathie. Und es gibt ja noch genügend andere Schulstunden, in denen die Kinder wieder gemeinsam lernen.

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