Süddeutsche Zeitung

Karrieren:"Manche sind Verkäufer, andere Lehrer - sie wissen es nur noch nicht"

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Warum erkennen Menschen ihre größten Talente nicht? Und was taugen Tests? Psychologin Madeleine Leitner über die Suche nach den eigenen Stärken.

Interview von Julian Erbersdobler

Nichts. Diese Antwort hört Madeleine Leitner immer wieder, wenn sie fragt, was eine Klientin oder ein Klient besonders gut kann. Sie ist Karriereberaterin und Psychologin, hilft Vorstandsvorsitzenden genauso wie Studenten. Wie kommt man den eigenen Talenten am besten auf die Spur? Und was steht dem im Weg? Leitner empfiehlt, sich dieser Frage anhand von Geschichten zu nähern.

SZ: Frau Leitner, warum fällt es uns so schwer, die eigenen Talente zu erkennen?

Madeleine Leitner: Wir sind da blind. Und das hat einen einfachen Grund: Die größten Fähigkeiten fallen uns so leicht, dass wir nicht einmal merken, dass wir überhaupt etwas tun. Und weil es uns so leicht von der Hand geht, denken wir: Das ist doch nichts Besonderes. Manche sind Verkäufer, andere Lehrer - sie wissen es nur noch nicht.

Sollten Schulen nicht der Ort sein, um Stärken und Talente schon frühzeitig zu entdecken?

Theoretisch schon, aber in den meisten Schulen geht es nur um Noten. Da werden Schüler dressiert. Die Förderung von Talenten spielt keine Rolle, Hauptsache, die Schüler funktionieren.

Dafür gibt es jede Menge Tests in Zeitschriften oder auf Ratgeberseiten, die sich um das Thema drehen. Was halten Sie davon?

Ich würde niemandem empfehlen, den Rest seines Berufslebens von einem Test in einer Zeitschrift abhängig zu machen. Die Qualität ist sehr unterschiedlich. Was man sagen kann: Bei Weitem nicht alles, was Test genannt wird, ist auch ein Test im engeren Sinne und hält den für Psychologen selbstverständlichen Gütekriterien stand.

Wie ist es mit anderen Meinungen? Hilft das Feedback von Vorgesetzten und Kollegen bei der Suche nach den eigenen Stärken?

Fremdbeurteilungen sind immer etwas schwierig, sogar, wenn sie von Freunden kommen. Das Beurteilen gehört in vielen Firmen zu den klassischen Aufgaben von Chefs. Die sind mal mehr oder weniger begnadet bei der Einschätzung von Talenten. Aber selbst, wenn sie das gut können, hilft das nicht immer. Es ist wichtig, dass Menschen sich ihrer eigenen Talente bewusst werden.

Wird die Suche nach Talenten heutzutage nicht auch etwas überbewertet? Muss Arbeit immer erfüllend sein?

In der Ingenieurswelt gibt es heute noch Vertreter, die denken, dass der Mensch ein Sklave der Arbeitswelt ist. Hinter dieser Ideologie steckt der Gedanke, dass Arbeit hart sein muss und keinen Spaß machen darf. Das ist Quatsch. Natürlich erreicht man mehr, wenn man den Beruf gefunden hat, der einem Freude macht.

Zu Ihnen kommen Klienten, die mit ihrem Job unzufrieden sind. Wie können Sie ihnen helfen?

Ich wende die Technik der Lebensgeschichten an. Das heißt: Ich fordere sie dazu auf, bestimmte Episoden aus ihrem Leben aufzuschreiben und mir vorzulesen. Danach sprechen wir über die Fähigkeiten, die in den Geschichten zum Vorschein kommen.

Was bekommen Sie da zu hören?

Die verrücktesten Dinge. Eine Extremsportlerin hat mir erzählt, dass sie mal nach dem Klettern nach Hause kam und noch mit dem Hund spazieren ging. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass sie an diesem Tag als erste Frau eine berüchtigte Felswand erklommen hat. Dafür hatte sie das Gelände vorher genau beobachtet, und mögliche Hindernisse und Risiken analysiert. Da haben wir das Talent.

Haben Sie noch ein Beispiel?

Eine andere Klientin beschrieb, wie sie mit 18 innerhalb von zwei Wochen ein Musical komponiert, getextet und arrangiert hatte. Da habe ich gestaunt. Auf meine verblüffte Reaktion sagte sie: "Jetzt schauen Sie doch nicht so, das kann doch jeder!" Es gibt geborene Regisseure, Lehrer, Spione. Die meisten haben nur keine Ahnung, was wirklich in ihnen steckt.

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Sz.de/jerb
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