Süddeutsche Zeitung

Zeitmanagement:Was muss ich zuerst erledigen?

Studenten leiden einerseits unter Aufschieberitis, andererseits haben sie hohe Erwartungen. Hochschulen bieten darum Kurse für Selbstorganisation an.

Von Christiane Bertelsmann

Nur noch schnell einen Blick in den E-Mail-Eingang werfen. Schauen, was sich auf Instagram, Twitter, Facebook oder anderswo in der virtuellen Welt getan hat. Und wieder ist eine Viertelstunde weg, das schlechte Gewissen genauso groß wie die Frustration. Denn die Aufgabe, die eigentliche, wichtige Arbeit, liegt immer noch. Gerade bei Menschen, die sich selbst zum Arbeiten motivieren müssen, lauern die Ablenkungen überall, im Internet, aber auch im realen Leben. Einkaufen, Wohnung in Stand halten, essen, Kaffee trinken.

Das geht Studenten nicht anders als anderen Menschen. Universitäten und Hochschulen bieten deshalb häufig Kurse zum Zeit- oder Selbstmanagement an. "Gerade von den Erstsemestern hören wir oft: Mir sagt ja keiner, was ich tun soll", sagt Brigitte Reysen. Die Psychologische Psychotherapeutin arbeitet seit fast 30 Jahren in der Studienberatung der Freien Universität (FU) Berlin. "Viele fühlen sich überfordert, sie haben Angst, durch ein Raster zu fallen, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden", sagt Reysen.

Das zweieinhalbstündige Seminar "Zeit- und Selbstmanagement" soll einen Anstoß zum Nachdenken geben, zum bewussteren Umgang, mit sich selbst, mit den eigenen Zielen, die viele Studierende erst einmal formulieren und suchen müssen. Brigitte Reysen legt den Schwerpunkt in ihrem Seminar weniger auf die Vermittlung von Techniken, mit denen man eventuell etwas Zeit sparen könnte, als vielmehr auf diese Fragen: Was ist dir wichtig? Warum hast du dich für dieses Studienfach entschieden? Wie bettest du das, was du willst, in dein Leben ein? "Ich möchte die Leute ins Denken bringen", sagt sie, "selbst, wenn ein Abbruch des Studiums die richtige Entscheidung ist, so ist das auch ein Weg."

"Die größten Kritiker sind wir oft selbst"

Matthias Brandes wird diesen Weg vermutlich einschlagen. Er studiert an der FU Berlin im zweiten Semester Philosophie und Sonderpädagogik auf Lehramt und möchte unbedingt Lehrer werden. "Aber es fällt mir sehr schwer, meinen Geist für Stunden auf eine Sache zu fokussieren", sagt der 24-Jährige. Darunter leiden seine Hausarbeiten. "Ich lenke mich dann ab, schaue Videos", sagt Brandes. Im Zeit- und Selbstmanagementseminar ist ihm klar geworden, wo seine Prioritäten liegen - eher im Bereich der praktischen Arbeit. Jetzt will er sein Studium vorzeitig beenden und versuchen, als Quereinsteiger in den Lehrerberuf zu kommen. Derzeit besucht er an der FU das Programm mit dem sprechenden Titel "Ab heute wird alles anders".

Reysen leitet das fünfwöchige Seminar, bei dem es um das Lösen von Handlungsblockaden geht. "Die größten Kritiker sind wir oft selbst", sagt die Psychologin, "das kann manchmal schon etwas Selbstzerstörerisches haben." Sie erarbeitet deshalb mit ihren Kursteilnehmern, wie sie positiv mit sich selbst umgehen und ihre Erfolge würdigen können. Und sie ermutigt sie dazu, Arbeitsziele zu formulieren und umzusetzen. "Das können ganz kleine Dinge sein, wie zum Beispiel den Schreibtisch aufzuräumen", sagt Reysen. Matthias Brandes hat derzeit zwei kleine Ziele: Sein Fahrrad zu reparieren und die Praktikumsmappe an einer Montessori-Grundschule abzugeben, wo er hospitieren möchte.

Janine Schmidt, die BWL studiert hatte, will als freier Coach Studierenden an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in ihrem Seminar "Zeit- und Selbstmanagement" vor allem Zeitsouveränität beibringen. "Sie sollen sich bewusst machen, wie sie ihre Zeit nutzen wollen. Und unterscheiden, woher etwa das Gefühl kommt, unter Zeitdruck zu stehen", sagt Schmidt, "Welchen Anteil daran haben meine eigenen hohen Ansprüche an mich selbst und welche haben fremde Erwartungen? Wird es tatsächlich knapp mit dem Abgabetermin für die Hausarbeit? So kann man lernen, mit der eigenen Zeit bewusst und selbstbestimmt umzugehen."

In den Seminaren bringt Janine Schmidt den Teilnehmern außerdem Methoden nahe, mit denen sie ihre Zeit besser organisieren können. Zum Beispiel die "Alpen-Methode" mit den fünf Elementen Aufgaben bestimmen, Länge der Aufgabe schätzen, Pufferzeiten einplanen, Entscheidungen treffen, Nachkontrolle. "Es genügt nicht, eine Methode zu kennen und dann zu denken, es läuft von allein. Deshalb schärfe ich das Bewusstsein für Eigenverantwortung", sagt Schmidt. Nach ihrer Erfahrung kann zum Beispiel übertriebener Perfektionismus großen Stress machen. Was da hilft: "Nicht alles gleichzeitig erledigen wollen. Mit den Studierenden erarbeiten: Was hat Priorität?"

Noch vergeben nicht alle Universitäten und Hochschulen für die Teilnahme an Seminaren und Workshops zu Zeitmanagement oder ähnlichen Themen Leistungspunkte - manche aber schon, jedenfalls in einigen Fächern: An der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ist etwa im Bachelor-Studiengang Sport und Sportwissenschaft ein Modul "Schlüsselqualifikationen" vorgeschrieben - und dafür können entsprechende Kurse des Career Service angerechnet werden.

"Natürlich würden wir uns wünschen, dass der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in den Prüfungsordnungen weiterer Fächer eine größere Rolle spielt", sagt Rosanna Götz, Projektleiterin Career Service an der Johannes-Gutenberg-Universität. "Wir bieten unsere Workshops fächerübergreifend an und ergänzen damit die vorhandenen Angebote. Damit versuchen wir, die Bedarfe der Studierenden an berufsqualifizierenden Veranstaltungen besser abzudecken."

An der Hochschule Schmalkalden in Thüringen kann man sich Kurse wie "Motivation und Selbstmanagement" oder "Problemlösungskompetenz" auf sein Studium anrechnen lassen. Denn sie gehören zu den Schlüsselqualifikationen - Soft Skills, wie sie Seminarleiter Matthias Rickes nennt. "Das sind Wahlpflichtveranstaltungen", betont er. "Die Lust, daran teilzunehmen, ist deshalb zuerst nicht so hoch. Viele haben das Gefühl: Oh, das muss ich auch noch machen."

Sobald die Teilnehmer aber die erste Stunde hinter sich haben, steigt die Motivation. Vor allem, weil Rickes häufig mit Selbsttests arbeitet. "Das fesselt die Studierenden schon - und führt dazu, dass sie sich selbst reflektieren", ist Rickes Erfahrung. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Gruppendynamik, das Gefühl, mit seinen Problemen nicht allein zu sein. Etwa mit dem Prokrastinieren. "Natürlich kann man da einen Aktionsplan an die Hand geben. Aber wird der tatsächlich umgesetzt?", gibt Rickes zu bedenken. Er möchte die Teilnehmer lieber dazu anregen, darüber nachzudenken, wie das Aufschieben zustande kommt. Und ob ihnen das Studium überhaupt Spaß macht, ob sie der Inhalt interessiert. Zweifeln ist also auf alle Fälle erlaubt.

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SZ vom 07.06.2019/berk
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