Bildungsprojekte für junge Menschen:Du kannst was!

Professorinnen

Die Chancen auf höhere Bildung sind ungleich verteilt. Noch immer spielt dabei der soziale Status der Eltern eine Rolle.

(Foto: picture alliance / Fabian Strate)

Begabte Kinder aus Migranten-Familien schaffen es selten an die Uni, weil sie Eltern und Lehrer zu wenig unterstützen. Wie sich das ändern lässt.

Von Stefan Weber

Als Turgay Tahtabas Anfang der Neunzigerjahre aus der Türkei nach Deutschland kam, wollte er vor allem eines: dass seine drei Kinder die bestmögliche Bildung erhalten. Aber wie sollte das gelingen? Tahtabas, Sohn eines Lehrers, sprach nur ein paar Brocken Deutsch. Er hatte bei der Stadtreinigung in Essen einen Job gefunden, die finanziellen Möglichkeiten der Familie waren begrenzt. Im Labyrinth der deutschen Bildungsangebote fand sich der Neuankömmling anfangs nur mühsam zurecht. "Zum Glück sind wir auf hilfsbereite, kompetente Menschen gestoßen, die uns viele Fördermöglichkeiten für unsere Kinder aufgezeigt haben", erzählt der 53-Jährige. Er selbst brachte sich bestmöglich ein. Zunächst als Elternvertreter im Kindergarten, später in den Schulen seiner Kinder. Er knüpfte ein Netzwerk, informierte sich, suchte Unterstützung. Dank dieser Begleitung von mehreren Seiten schafften Töchter und Sohn nicht nur das Abitur, sondern absolvierten auch erfolgreich ein Studium.

Wenn im Ruhrgebiet über Integration und Bildung gesprochen wird, fällt häufig der Name Tahtabas. Weil das Beispiel seiner Familie zeigt, dass Bildungskarrieren auch bei weniger guten Startbedingungen gelingen können. Und weil sich Tahtabas stark für andere Kinder engagiert, denen es an Sprachkenntnissen mangelt und die von zu Hause wenig Unterstützung erhalten. "Ich möchte, dass möglichst viele Kinder so intensiv gefördert werden wie meine", sagt der Familienvater.

Damit das gelingt, hat er 2015 in Essen das gemeinnützige "Zukunft Bildungswerk" gegründet, das derzeit etwa 700 Kinder betreut. Das Ziel: Jungen Menschen zu helfen, ihre Talente zu entwickeln. Und zwar möglichst früh: bereits ab einem Alter von drei Jahren - in Kindertagesstätten. Obenan steht die sprachliche Förderung. Tahtabas legt Wert darauf, die Eltern stark miteinzubinden. Ihnen zu vermitteln, wie wichtig es ist zu lernen, und wie sie ihre Kinder unterstützen können. Er kennt die Wissenslücken und Vorbehalte mancher Eltern beim Thema Bildung. Und er kann damit umgehen. Sein stärkstes Argument ist die eigene Biografie.

Nancy Kracke weiß, wie ungleich die Bildungschancen in Deutschland nach wie vor verteilt sind und wie sehr der Bildungshintergrund des jeweiligen Elternhauses über Lebensläufe entscheidet. Sie ist Autorin einer Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) über den beruflichen Werdegang von Kindern aus Akademiker- und Nicht-Akademikerfamilien. Ergebnis: Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen statistisch gesehen 79 ein Hochschulstudium. Bei Nicht-Akademikerfamilien schaffen gerade einmal 27 von 100 Kindern den Sprung an eine Hochschule. In Familien, in denen weder Vater noch Mutter einen beruflichen Abschluss haben, streben nur zwölf Prozent der Kinder eine Hochschulausbildung an. Sobald mindestens ein Elternteil eine Berufsausbildung abgeschlossen hat, steigt der Anteil der Kinder, die studieren, jedoch bereits auf 24 Prozent. Diese Quoten sind nach Beobachtung des DZHW seit mehr als zehn Jahren nahezu unverändert.

Woran liegt diese Ungleichverteilung? Bildungsforscherin Kracke weist darauf hin, dass Eltern im Bildungsverlauf ihres Kindes an mehreren Stellen Entscheidungen treffen müssen, so zum Beispiel beim Übergang von der Grundschule zur Realschule oder zum Gymnasium. "Familien mit geringem Bildungshintergrund tendieren häufig dazu, die Kosten für höhere Bildung zu überschätzen und den Nutzen zu unterschätzen - ungeachtet der möglicherweise hohen Lernbereitschaft und des Talents ihres Kindes. Ihnen fehlt es an Informationen", erläutert sie. Anders verhielten sich bildungsnähere Elternhäuser. Sie seien besser informiert, könnten Chancen und Risiken eines Hochschulstudiums genauer einschätzen. Zudem verfügten sie über größere finanzielle Mittel, um ihren Nachwuchs gezielt zu fördern.

"Den Status, den die Familie erreicht hat, auf jeden Fall halten"

Exoten an deutschen Hochschulen sind junge Menschen wie die Kinder von Tahtabas: mit Migrationshintergrund aus einem nicht-akademischen Elternhaus. Haben dagegen Vater und Mutter oder ein Elternteil eine Hochschule besucht, ist es fast sicher, dass die Kinder auch studieren. "Migrantenkinder, deren Eltern Akademiker sind, haben besonders hohe Bildungsambitionen. Sie möchten den Status, den die Familie erreicht hat, auf jeden Fall halten", sagt Kracke.

Daten des statistischen Bundesamts und Erkenntnisse des Berichts "Bildung in Deutschland 2018" (Nationaler Bildungsbericht) zeigen, dass sich der Schulerfolg junger Menschen mit Migrationshintergrund in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat. In Nordrhein-Westfalen, wo besonders viele Menschen aus Zuwandererfamilien leben, schafften 2016 etwa 20 Prozent der ausländischen Schulabgänger die Hochschulreife. 2005 waren es erst zehn Prozent gewesen. Parallel dazu hat die Zahl derjenigen, die die Schule mit Hauptschulabschluss oder gar ohne Abschluss verlassen, deutlich abgenommen.

Aber: Der Abstand zu deutschen Schulabgängern, von denen knapp 42 Prozent das Abitur erlangten, ist nach wie vor gewaltig und hat sich zuletzt sogar leicht vergrößert. Die Chancen stehen jedoch gut, dass sich diese Lücke bald wieder ein wenig schließt. Laut Nationalem Bildungsbericht hatte 2015 in 36 Prozent aller deutschen Gymnasien mindestens jeder vierte Schüler einen Migrationshintergrund. "Inzwischen finden sich auch Gymnasien, in denen die Mehrheit der Schüler eigene oder familiale Zuwanderungserfahrung hat, was im Jahr 2000 an keinem Gymnasium der Fall war", schreiben die Autoren.

Diese Zahlen täuschen jedoch darüber hinweg, wie ungleich Chancen an vielen Schulen verteilt sind. Da ist zum Beispiel die Städtische Gesamtschule Bockmühle in Essen. Der überwiegende Teil der etwa 1500 Schülerinnen und Schüler kommt aus sozial schwachen Familien mit geringen oder gänzlich fehlenden Bildungsabschlüssen. Zwei Drittel von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Das Thema Schule nimmt hier im Stadtteil Altendorf in vielen Haushalten nur eine untergeordnete Rolle ein. "Beim Lernen sind die Kinder häufig sich selbst überlassen", sagt Schulleiterin Julia Gajewski. Denn viele Eltern seien an der Bildungskarriere ihres Nachwuchses nicht interessiert. "Wenn wir zu einem Elterngespräch einladen, müssen wir oft fünf, sechs Mal telefonieren, ehe Vater oder Mutter erscheinen."

Wer im familiären Umfeld wenig Wertschätzung für seine schulischen Leistungen erfährt, zweifelt schnell an seinen Talenten und traut sich wenig zu. Lehrer können dieses Defizit nur schwer ausgleichen, selbst wenn sie besonders engagiert sind. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen will ab dem Schuljahr 2019/20 an 45 allgemeinbildenden und 15 berufsbegleitenden Schulen im Land testen, inwieweit sich Leistungen von Schülern durch besondere unterrichtliche Konzepte steigern lassen. Diese 60 "Talentschulen" in Stadtteilen mit großen sozialen Herausforderungen erhalten 400 zusätzliche Lehrer sowie ein vergrößertes Budget. Zudem wird die Beratungs- und Elternarbeit verstärkt.

Gut möglich, dass gerade das die entscheidende Stellschraube für mehr Chancengerechtigkeit ist. Die Eltern, so sagt Turgay Tahtabas, der engagierte türkische Vater aus Essen, sind in den meisten Fällen die wichtigsten Weichensteller für die Bildungskarriere junger Menschen. Seine Familie ist dafür der beste Beweis.

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