Studienabbrecher:Verschleppte Lüge

Aus Scham über das abgebrochene Studium schwindelt sich eine Frau jahrelang durchs Leben. Systematisch kehrte sie ihr Scheitern unter den Teppich, bis ihr Leben einem Scherbenhaufen glich.

Nadja Wick

Diese Frage hat Christina Dachser (Name geändert) nicht erwartet. Nicht heute, nicht an Weihnachten. Sie zielt mitten in ihr Geheimnis. "Christina, wie lange hast du eigentlich studiert?", hat ihre Mutter gefragt. Ganz direkt, zum ersten Mal seit Jahren. Es ist Heiligabend 2007. Christina Dachser ist mit ihrem zehnjährigen Sohn zu Besuch bei den Eltern. Die warten nun gespannt auf eine Antwort.

verzweifelt, iStock

Verzweifelt: In Deutschland verlässt im Schnitt jeder fünfte Student die Universität ohne Abschluss. Manche von ihnen fallen dann in ein tiefes Loch.

(Foto: Foto: iStock)

Die Dreißigjährige müsste jetzt eigentlich lügen und die Geschichte wiederholen, an die sie selbst schon fast glaubt: Dass sie in Bonn studiert hat, Mathe und Physik auf Lehramt. Dass sie Examen gemacht hat und jetzt auf einen Platz für das Referendariat wartet. Und dass sie währenddessen mit ihrem Mann auch noch ein Kind großgezogen hat. Seit sieben Jahren erzählt sie diese Geschichte, Jahr um Jahr hat sie an ihr weitergesponnen. Ihre Familie und ihre Freunde haben ihr geglaubt. Warum auch nicht? Dachser ist klug und selbstbewusst. Und in Mathe war sie schon immer gut.

"Seltsame Vögel" im Studium

Die junge Frau sitzt am weihnachtlich gedeckten Tisch. Heute hat sie keine Kraft zum Lügen, ihr entwischt die Wahrheit: "Vier Semester." Sie sagt es mit einem trotzigen Unterton, dann steht sie auf und geht. Konflikte hat sie schon immer gemieden.

Die Entscheidung, das Studium abzubrechen, hat Dachser nie bewusst getroffen, es war ein schleichender Prozess. Als sie 1998 mit dem Studium beginnt, hat sie gerade einen Sohn zur Welt gebracht. Trotzdem will sie zur Uni gehen und Lehrerin werden. Doch das Studium ist anders, als sie es sich vorgestellt hat. Sie ist weitgehend unter Männern, die meisten sind "seltsame Vögel". Vor allem aber fühlt sie sich als junge Mutter schnell überfordert. Der Leistungsdruck ist hoch. "Ich hatte morgens und abends Vorlesungen, und in der Zwischenzeit musste ich Übungsaufgaben vorbereiten", sagt sie.

Vor den Nachbarn den Schein wahren

Obwohl Christina Dachser noch bei ihren Eltern lebt, die sich während der Vorlesungen um den Sohn kümmern, schafft sie ihr Pensum nicht. "Wir mussten regelmäßig Übungen abgeben, um zur Klausur zugelassen zu werden", erinnert sie sich. Dachser grübelt oft bis spät in die Nacht über den Mathe-Aufgaben. Irgendwann verfehlt sie die Zulassung zur Klausur. Bis zur nächsten Prüfung muss sie zwei Semester warten. "Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten", sagt sie rückblickend. Sie besucht noch ein paar Seminare, macht aber keine Scheine mehr. Da hat sie das Studium innerlich schon aufgegeben, traut sich aber nicht, es jemandem zu sagen. Sie schämt sich: "Ich wollte selbst nicht wahrhaben, dass ich es nicht geschafft habe." Nur ihren Mann weiht sie ein. In den Jahren danach, sagt sie, habe sie die Lüge "verschleppt".

Reinhard Kukahn von der psychotherapeutischen Beratungsstelle des Bonner Studentenwerks kennt solche Fälle: "Es kommen immer wieder Studenten zu mir, die ihr Scheitern nicht eingestehen können", sagt der Psychologe. "Aber das Problem betrifft auch Menschen im Beruf. Ich hatte zum Beispiel einmal einen Mann in der Praxis, der Tag für Tag aus dem Haus ging, obwohl er schon monatelang arbeitslos war. Er wollte damit vor den Nachbarn den Schein wahren."

Die Betroffenen wissen, dass ihr Verhalten eines Tages in die Katastrophe führen wird, sagt Kukahn. "Aber sie kommen aus dem System nicht mehr so leicht raus." So erging es auch der Ärztin Cornelia E.: Als Medizinstudentin fiel sie mehrmals durch das Physikum. Irgendwann war Schluss, sie wurde exmatrikuliert. Doch auch sie behielt das Scheitern für sich. Stattdessen fälschte sie ihre Zeugnisse und heuerte an der Hamburger Uniklinik als Ärztin an. Vier Jahre lang praktizierte sie, erst im vergangenen Jahr flog der Schwindel auf. Um Cornelia E. kümmert sich jetzt die Staatsanwaltschaft. Die Vorwürfe: Urkundenfälschung und Betrug.

Auf der nächsten Seite: Wie Christina nun ihr Leben ordnet.

Verschleppte Lüge

Keine Lust mehr auf die Fragerei

So weit wird es bei Christina Dachser nicht kommen. Sie hat vor allem sich selbst geschadet, hat ihre engsten Vertrauten enttäuscht. Wie sie in die Geschichte hineingeraten ist, kann sie sich selbst heute nur schwer erklären. "Meine Eltern haben immer gefragt, ob ich vorankomme", sagt sie. "Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf die Fragerei und habe einfach gesagt, dass alles in Ordnung ist." Dabei war ihr schon damals klar, dass es nicht immer ein Zeichen von Schwäche sein muss, das Studium abzubrechen.

In Deutschland verlässt im Schnitt jeder fünfte Student die Universität ohne Abschluss. Nach Angaben des Hochschulinformations-Systems (HIS) in Hannover, das regelmäßig die soziale Situation von Studierenden in Deutschland untersucht, liegen die Ursachen dafür unter anderem in finanziellen Problemen, in einer beruflichen Neuorientierung und in mangelnder Motivation. Studenten mit Kind brechen häufig wegen der Unvereinbarkeit von Seminarangeboten und Kinderbetreuungszeiten ab und geben darüber hinaus "familiäre Probleme" als Gründe an. Bei Christina Dachser kam alles zusammen. Jeder hätte ihren Studienabbruch nachvollziehen können. Und am Beispiel ihres Mannes hätte sie sehen können, dass die Abkehr von den Studienplänen keine Schande ist: Er hängte sein Biologie-Studium nach wenigen Semestern an den Nagel und begann eine Ausbildung.

In der Lüge eingemauert

Aber Dachser wollte ihr Scheitern "unter den Teppich kehren. Ich habe gehofft, dass mich niemand mehr darauf anspricht." Doch natürlich wird sie darauf angesprochen. Dabei werden ihre Lügen von Mal zu Mal abenteuerlicher. Ihrer geheimen Logik folgend kündigt sie im Frühjahr 2005 an, zum Examen zugelassen zu sein. Ihre Mutter zündet zu Hause eine Kerze für sie an. Nach dem Phantasie-Examen ruft Dachser an und meldet: "Alles gut gelaufen." Das Zeugnis zeigt sie niemandem. "Direkt ans Ministerium weitergeschickt", lügt sie. Dass sie dann keinen Platz für das Lehramts-Referendariat bekommt, kann sie ebenfalls erklären: "Das Ministerium hat Mist gebaut und meine Akten verschlampt."

Ihre Mutter und ihre Freunde ahnen, dass etwas nicht stimmen kann. Aber sie dringen nicht durch zu Christina Dachser. Sie hat sich in ihrer Lüge eingemauert. Wie lange sie weitergelogen hätte, kann Dachser heute nicht einschätzen. Dass sie ihren Eltern an Weihnachten die Wahrheit sagt, liegt nicht an einem plötzlichen Sinneswandel, sondern daran, dass sie die Deckung für ihre Geschichte verloren hat: ihren Mann. Solange die Ehe funktioniert hat, konnte sich Dachser ihre Lüge leisten. Ihr Mann sorgte für den Lebensunterhalt, sie verdiente durch einen Nebenjob in einer Kneipe ein paar hundert Euro dazu. Doch dann, wenige Wochen vor Weihnachten, verlässt er sie von einem Tag auf den anderen. "Er hat mein Leben gestohlen", sagt sie kurz nach der Trennung. Da weiß noch niemand von ihrem Studienschwindel. Das ist jetzt knapp vier Monate her. Dachser ist auf einmal allein erziehend, die Wohnung ist gekündigt, der Kneipenjob reicht nicht zum Leben. Sie sucht nach Alternativen, bewirbt sich um einen Ausbildungsplatz zur Rechtsanwaltsgehilfin. Psychologe Kukahn sieht das positiv: "Jede Krise birgt neue Chancen." Dachser ist fest entschlossen, diese Chance zu nutzen. Ein Neuanfang. Ohne Lügen.

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