Studienabbrecher:Der große Absprung

Jeder fünfte Student verlässt die Hochschule ohne Abschluss. Warum es so viele Abbrecher gibt und wie sie auch ohne akademischen Titel durchstarten.

Nadja Scholz

Es ist ein zerknirschter Brief, den der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen im vergangen Sommer an seine Genossen schreibt. Der 35-Jährige erklärt darin, dass er sein Geschichtsstudium abbricht. Im Wahljahr 2005 hatte er noch vollmundig versprochen, er werde das Studium abschließen. Aber nach "26 oder 27" Semestern - so genau hat er am Ende nicht mehr mitgezählt - schmeißt er dann doch. Zwar hat er alle Scheine beisammen und könnte mit der Magisterarbeit beginnen. Aber er scheitert an einer entscheidenden Prüfung: dem Latinum. Schluss, aus, Annen ist raus.

Studienabbrecher: Den Absprung schaffen: Wer das Studium aufgibt, steht unweigerlich vor der Frage: Wie soll es jetzt weitergehen?

Den Absprung schaffen: Wer das Studium aufgibt, steht unweigerlich vor der Frage: Wie soll es jetzt weitergehen?

(Foto: Foto: dpa)

Wer abbricht, hat versagt

Für Niels Annen ist der Studienabbruch ein berufliches Desaster. Er ist prominent, von ihm wird viel erwartet. Scheitern darf nicht sein. Deshalb der Brief: Geständnis und Entschuldigung zugleich. Aber immerhin hat er, anders als die meisten Abbrecher, schon entscheidende Schritte im Berufsleben zurückgelegt. Das wird ihm die Zukunft erleichtern. Die vielen anderen Studenten, die das Handtuch werfen, gucken dagegen oft erst einmal in die Röhre. Wer das Studium aufgibt, steht unweigerlich vor der Frage: Wie soll es jetzt weitergehen?

Nach Angaben des Hochschul-Informations-Systems (HIS) in Hannover verlässt jeder fünfte Student die Uni ohne Abschluss. Das ist zwar ein leichter Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren, gegenüber anderen EU-Staaten immer noch viel. Was aus der Statistik nicht hervorgeht: Kaum ein Student geht einfach so. Viele ringen monatelang mit dem Gedanken, bis die Entscheidung fällt. Wer abbricht, hat versagt: Das ist das herrschende Bild, auf dem niemand gern abgebildet sein möchte. Da tröstet auch ein Hinweis auf prominente Abbrecher wie Bill Gates, Herbert Grönemeyer oder Wolfgang Joop wenig. Wer es vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht hat, hat immer gut lachen.

Gezwungen zum Weitermachen

Alina Wallbaum hat zwei Jahre für die Entscheidung gebraucht. Die 30-Jährige hat in Weimar Medienkultur studiert und schon früh gemerkt, dass sie sich damit nicht wohl fühlt: "Jede Hausarbeit hat mich extrem angestrengt, ich war voller Versagensängste und Selbstzweifel", sagt sie. Schon nach wenigen Semestern überlegt sie, das Studium an den Nagel zu hängen. "Das Problem war nur, dass ich die Prüfungen immer sehr gut bestanden habe und so viel positive Rückmeldung bekommen habe, dass ich mich selbst zum Weitermachen gezwungen habe", sagt sie heute.

Auch ihre Familie bestärkt sie in ihrem Bemühen, am Ball zu bleiben. Wallbaum hält durch, acht Jahre lang. Und schafft es schließlich - mit einem Notenschnitt von 2,0 - bis zum Diplom. Acht Jahre, in denen sie sich immer wieder zwingen muss. Sie leidet unter depressiven Verstimmungen und Arbeitsblockaden. Die Studentin sucht psychologische Hilfe. Doch auch von dort gibt es nur die Devise: durchhalten. Während der Diplomphase fühlt sich Alina Wallbaum dann von ihrem Betreuer völlig allein gelassen, ihr fehlt die fachliche Unterstützung. Sie gibt auf. Mitten im Diplom, kurz vor dem Ziel.

Auf der nächsten Seite: Warum es gerade in den Geisteswissenschaften so viele Abbrecher gibt - und die Umstellung auf den Bachelor nur bedingt hilft.

Neue Pläne - neue Energie

Durchhalten um jeden Preis

Das war im Sommer 2008. "Als die Entscheidung gefallen war, das Studium abzubrechen, fühlte ich mich auf einen Schlag viel besser", sagt sie. Seither hat sie neue Energie - und neue Pläne. Sie hat sich um einen Ausbildungsplatz im Gesundheitsbereich beworben und gleich mehrere Zusagen bekommen.

"Ich finde es sehr problematisch, dass in unserer leistungsorientierten Gesellschaft dieser Druck herrscht, um jeden Preis durchzuhalten", sagt sie. "Als gäbe es kein Leben nach dem Studienabbruch. Diese scheinbare Ausweglosigkeit hat mich krank gemacht."

Falsche Erwartungen

Ulrich Heublein vom HIS hat mehrfach untersucht, warum Studenten in Deutschland das Studium hinwerfen. Zu den Hauptmotiven, sagt er, gehören Probleme bei der Studienfinanzierung, falsche Erwartungen an das Fach, Schwierigkeiten mit den Leistungsanforderungen, familiäre Probleme und Krankheit. Meist kommt gleich mehreres zusammen.

Auch Alina Wallbaum ist mit falschen Erwartungen an das Studium herangegangen. Einmal schon hatte sie innerhalb des Fachs den Schwerpunkt gewechselt - von Linguistik zu Medienkultur. "Ich dachte damals, dass Medienkultur praktischer ausgerichtet ist", sagt sie. Ein Irrtum, der auch anderen widerfährt. Heublein: "Gerade in den Geisteswissenschaften erleben die Studierenden sehr oft, dass sich die Inhalte nicht mit ihren Vorstellungen decken."

Kein eindeutiges Berufsziel

Beispiel Germanistik: "Man schreibt sich ein, weil man sich zur Literatur hingezogen fühlt. Dann aber muss man sich plötzlich durch sprachwissenschaftliche Theorien quälen oder an die geliebten Texte mit einem distanzierten, analytischen Blick herangehen." Für viele ist das eine große Enttäuschung, deshalb ist die Abbruchquote unter den Sprach- oder Kulturwissenschaftlern extrem hoch. Fast ein Drittel gibt vorzeitig auf.

Hinzu kommt bei diesen Fächern, dass das Berufsziel nicht eindeutig ist. Während Lehramts-, Medizin- oder Pharmazie-Studenten recht genau wissen, wie ihre Arbeit später aussehen wird, ist etwa bei Germanisten alles und gar nichts drin: Journalismus, Werbung oder in die PR-Branche? Oder doch lieber in die Wissenschaft?

Der Bachelor-Effekt

Mit dem Bachelor-Abschluss, der in den letzten Jahren an vielen Fachhochschulen und Universitäten eingeführt worden ist, war ursprünglich auch die Hoffnung verbunden, Studenten vor dem vorzeitigen Aufgeben der akademischen Laufbahn zu bewahren. Gerade in den Sprach- und Kulturwissenschaften sieht Heublein diesen Effekt bestätigt. Dort ist die Abbrecherquote gesunken.

Dass der neue Schnellschluss jedoch kein generelles Allheilmittel gegen den Abbruch ist, hat sich am deutlichsten in den Fachhochschul-Studiengängen Maschinenbau und Elektrotechnik gezeigt. Dort ist die Zahl der Abbrecher unter den Bachelor-Anwärtern überdurchschnittlich hoch. Da das Studium in drei Jahren über die Bühne gebracht werden soll, wurde der ohnehin schon anspruchsvolle Stoff stark verdichtet.

Auf der nächsten Seite: Wo sich verzweifelte Studierende Rat holen können.

Ein explosiver Mix

Mittendrin im Leben

Außerdem haben viele Studenten zuvor eine Ausbildung gemacht oder gejobbt. Im Schnitt sind sie 23 Jahre alt, wenn sie ihr Fachhochschulstudium aufnehmen: weit weg vom Mathewissen der Schulzeit, aber schon mittendrin im Leben mit einem relativ hohen Standard, den die meisten nicht mehr missen möchten. Viele jobben deshalb nebenher. Ein explosiver Mix, der häufig zum Abbruch führt.

Aber auch bei den Ingenieurswissenschaften an Universitäten, die noch mit dem Diplom abschließen, gibt es nach wie vor überdurchschnittlich viele Abbrecher. Matthias Wolf wäre fast einer von ihnen geworden. Er hat zehn Semester Maschinenbau in Magdeburg studiert. Um sein Diplom zu bekommen, muss er auch ein Semester in einem Unternehmen arbeiten.

Jeder Tag ist eine Qual

Diese Aussicht hasst er. "Ich weiß jetzt schon, dass ich nie Konstrukteur werde, weil ich einfach nicht am Schreibtisch sitzen kann", sagt er. Statt dessen würde er viel lieber in seinen alten Beruf zurückkehren, er ist gelernter Mechaniker. "Aber alle in meinem Umfeld sagen mir, dass ich jetzt noch die paar Monate durchhalten soll und es dann in der Tasche habe", sagt er. "Und mein Verstand sagt mir das auch. Aber ich sehe einfach keinen Sinn darin." Kaum ein Tag, an dem Wolf nicht darüber nachdenkt, alles hinzuwerfen. "Es kann gut sein, dass ich mich eines Tages ärgere, wenn ich jetzt aufgebe. Aber die Vorstellung, in diesem Unternehmen zu arbeiten, ist einfach zu quälend."

Der Maschinenbaustudent hat sein Problem in einem Forum auf der Internetseite www.studienabbrecher.com geschildert. Dort holen sich verzweifelte Studierende Rat von Leidensgenossen. Wolf wurde dort oft ermuntert, auf jeden Fall weiterzumachen. Aber es gab auch Stimmen, die ihm zum Abbruch rieten: Viele Chefs würden es sogar schätzen, wenn die Bewerber auch mal unkonventionelle Wege eingeschlagen hätten. Tatsächlich werben auf der Internetplattform einige Unternehmen gezielt Abbrecher, um sie auf ihren eigenen Berufsakademien auszubilden. Der Studienabbruch also nicht als Makel, sondern als Zeichen für Selbstbewusstsein und Entscheidungsfreude?

Passende Alternative

Im Hochschulteam der Agentur für Arbeit in Berlin Mitte sieht man das kritisch. "Bevor jemand das Studium aufgibt, schauen wir uns zusammen sehr genau seine Bedürfnisse und Fähigkeiten an", sagt Beraterin Heike Kuss. Erst wenn eine wirklich passende Alternative gefunden ist, wird der Abbruch in Erwägung gezogen. Allerdings empfiehlt sie, immer langfristig zu denken: "Arbeitsmarktpolitisch kann man es nicht anders sagen: Je höher jemand qualifiziert ist, desto seltener trifft ihn die Arbeitslosigkeit." Das Abschlusszeugnis: ein Türöffner.

Das kann Alexandra Rex bestätigen. Sie ist Personalreferentin bei einem großen Online-Versandhandel. "Wenn sich bei uns externe Kandidaten ohne Studienabschluss für leitende Positionen bewerben, haben sie keine Chance", sagt sie. Anders sieht es bei hausinternen Bewerbern aus: "Wenn ich sie kenne und von ihrer Leistung überzeugt bin, kann es auch mal ohne Studium klappen." Bei Kollegen stößt solche Entscheidungen manchmal auf Unverständnis. Rex bleibt dann gelassen: "Na und? Ich hab ja auch kein Diplom."

Freifahrtschein zum Rumgammeln

Die Personalreferentin hat selbst eine typische Abbrecherkarriere hinter sich. Sechs Jahre war sie in Volkswirtschaftslehre eingeschrieben. "Ich habe etliche Theorien gelernt, aber mir blieb ihr Nutzen fremd", sagt sie. Die Freiheit, den Stundenplan selbst zu basteln, wurde ihr zum Verhängnis. Sie wirkte wie ein Freifahrtschein zum Rumgammeln. Ein verschulteres, praxisbezogeneres Studium hätte ihr besser getan.

Den Entschluss, das Studium aufzugeben, fasste Rex nicht von einem Tag auf den anderen. Sie wohnte zwar noch im Studentenwohnheim, ging aber irgendwann nicht mehr zu den Seminaren. Stattdessen begann sie zu jobben, sortierte drei Jahre lang Briefe bei der Post. Irgendwann wurde ihr schlagartig klar: So geht es nicht weiter. "Ich war 30 Jahre alt und lebte auf 20 Quadratmetern in einer Studi-WG", sagt sie. Am meisten nervte sie die Frage: Und, was machst du so beruflich?

Alexandra Rex heuerte im Callcenter eines Handelsunternehmens an. Und dort packte sie der Ehrgeiz. Der Job lag ihr, sie bekam viel Bestätigung. Sie arbeitete immer mehr, arbeitete sich hoch. Acht Jahre später ist sie in der Personalabteilung angekommen. "Damit hätte ich damals nicht gerechnet." Manchmal denkt sie, dass sie sich viel hätte ersparen können, wenn sie das Studium zu Ende gebracht hätte. Aber dann würde ihr jetzt auch etwas fehlen: Verständnis für krumme Lebensläufe. Mit dem Knick in ihrer eigenen Biografie kann sie heute umgehen. "Die Wunde ist verheilt", sagt sie. "Aber eine Narbe ist geblieben."

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