Studentenproteste in Großbritannien:"Das war erst der Anfang"

Nach der Eskalation der Studentenproteste in London denkt Großbritannien über den sozialen Frieden im Land nach. Und darüber, warum eine andere Parteizentrale von den Randalen verschont wurde.

Maria Holzmüller

Am Tag danach ist es wieder ruhig im Londoner Regierungsviertel. Die Scherben sind aufgekehrt - und das Analysieren beginnt. Nachdem am Vortag bis zu 50.000 Studenten gegen die Erhöhung der Studiengebühren demonstriert und an die 200 Demonstranten die Parteizentrale der regierenden Konservativen gestürmt hatten, stellt sich Großbritannien die Frage, wie es jetzt weitergeht mit dem rigorosen Sparprogramm der Regierung - und dem Zorn der Bürger. Der Gewaltausbruch der Studenten sei möglicherweise erst das erste Anzeichen der öffentlichen Wut über das Sparprogramm, räumten britische Minister ein.

Regierungschef David Cameron hat den Sturm teils vermummter Studenten auf die Zentrale seiner Partei scharf verurteilt. "Natürlich haben die Menschen das Recht auf friedlichen Protest, aber ich habe Bilder gesehen von Menschen, die auf Gewalt und Verwüstung aus waren und auf die Zerstörung von Eigentum, und das ist vollkommen inakzeptabel", sagte Cameron in Südkoreas Hauptstadt Seoul, wo er am G-20-Gipfel teilnimmt. Dieses Verhalten werde nicht unbestraft bleiben.

Grund für die Demonstration ist die geplante massive Erhöhung der Studiengebühren. Weil dem Staat das Geld fehlt, will die Regierung den Universitäten erlauben, die derzeit erhobenen Studiengebühren von umgerechnet maximal 3780 Euro pro Jahr zu verdoppeln oder unter "außergewöhnlichen Umständen" fast zu verdreifachen. Gleichzeitig soll der Bildungsetat um 40 Prozent gekürzt werden. Die mitregierenden Liberaldemokraten von Vize-Premierminister Nick Clegg tragen die Pläne mit, obwohl sie im Wahlkampf eine Erhöhung der Studiengebühren ausgeschlossen hatten. Ein Widerspruch, der ihnen jetzt viele Antipathien einbringt.

Was als friedlicher Protestmarsch durchs Regierungsviertel begann, endete schließlich in einem Ausbruch von Gewalt. Tausende Demonstranten zogen vor die Parteizentrale der Konservativen. Einige warfen die Glasfassade des Gebäudes ein und stürmten ins Innere. Vor dem Gebäude entfachten sie ein Feuer, warfen Flaschen und Eier. "Ich habe schon viele Proteste gesehen", schrieb ein Fotograf der Zeitung Sun, "Aber diese Leute meinten es wirklich ernst. Es war extrem angsteinflößend. Vom Dach des Hauses wurde ein Feuerlöscher geworfen, der meinen Kopf nur um Zentimeter verfehlte", schrieb er. 14 Menschen wurden verletzt, die Polizei nahm 32 Demonstranten in Gewahrsam. Es war die größte Demonstration gegen die Regierung seit Camerons Amtsantritt im Mai.

Cameron kritisierte nun auch das Vorgehen der Polizei. Die Reaktion der Beamten gegen die Demonstranten sei "nicht angemessen" gewesen. Es gebe 30.000 Polizisten in London, aber nur wenige seien vor Ort gewesen, um die Randalierer zurückzuhalten. Das Gewaltpotential sei falsch eingeschätzt worden. Der Londoner Polzeichef Sir Paul Stephenson räumte Fehler ein: "Die Vorgänge waren nicht akzeptabel. Das ist eine Schande für London und für uns", sagte er der Tageszeitug The Guardian. Anti-Krawall-Einheiten der Polizei hatten schließlich die Protestierer aus dem Gebäude vertreiben.

Mitglieder der Konservativen Partei wundern sich inzwischen, warum nur ihre Parteizentrale gestürmt wurde - die nahegelegene der mitregierenden Liberaldemokraten jedoch nicht. "Dafür zahlen wir unsere Polizei nicht. Es scheint, als hätten sie die Zentrale der Liberaldemokraten geschützt, aber unsere Partei völlig vergessen", äußerte sich ein Mitglied der Konservativen im Guardian. Die Polizei selbst kündigte eine umfassende Untersuchung der Vorgänge an.

Regierungsschef Cameron beeilte sich, zu versichern, dass auch die geplanten Einsparungen bei der Polizei sich nicht auf deren Präsenz auf der Straße auswirken würden.

Währenddessen sehen manche Beobachter das soziale Gleichgewicht im Land in Gefahr. Eine Parallele zu den gewaltsamen Ausschreitungen unter der Regierung Thatcher in den achziger Jahren will Regierungschef Cameron aber nicht sehen. "Es gab unter allen Regierungen sowohl friedliche als auch gewaltsame Proteste. Ich glaube nicht, dass das etwas mit sozialem Unfrieden zu tun hat", sagt er.

Die britische Bevölkerung sieht die Vorkommnisse derweil mit gemischen Gefühlen. Nicht alle können die Forderungen der Studenten nachvollziehen. "Es gibt einfach keine kostenlose Bildung. Sie wird aus unseren Steuern finanziert" sagte ein Beobachter dem Guardian. Auch unter den Studenten gab es Frust über die Eskalation: "Ein paar Verrückte haben alles zerstört", sagte ein Student aus Leicester. Aaron Porter, Präsident der nationalen Studentenunion äußerte sich über Twitter: "Es ekelt mich an, dass eine Minderheit von Idioten mit ihren Aktionen 50.000 Menschen in den Rücken fällt, die friedlich protestieren wollten."

An den angekündigten Sparmaßnahmen wird der Gewaltausbruch jedenfalls zunächst nichts ändern. Regierungschef Cameron kündigte bereits an, dass es kein Zurück gebe. Das neue System sei wesentlich "progressiver" als das bisherige. Die Protestaktion der Studenten wird damit nicht die letzte gewesen sein.

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