Studentenproteste:Im Hamsterrad der Creditpoints

Mitten im Bildungsstreik können Studenten eine Menge lernen: Wie schläft man im Rektorat? Und dürfen Jusos den Besetzern Frühstück machen?

Livia Gerster

Toll, dachte ich, du studierst in Leipzig, der Stadt der Montagsdemonstrationen, und gleich im ersten Semester geht's los: Bildungsstreik. Das klingt gut. Da mache ich mit. Und schon war ich auf der Straße, zusammen mit 5000 anderen.

Studentenproteste: Gedanken über das Studium, den Kapitalismus und das Leben im Allgemeinen: Wann, wenn nicht jetzt?

Gedanken über das Studium, den Kapitalismus und das Leben im Allgemeinen: Wann, wenn nicht jetzt?

(Foto: Foto: ddp)

Vor zwanzig Jahren ging's um Freiheit, vor vierzig Jahren um Weltrevolution. Wem es heute worum geht, ist nicht so ganz klar, auch wenn es heißt, dass "wir" gegen schlechte Studienbedingungen und Perspektiven, Studiengebühren und gegen das "Bologna-Prozess" genannte Reformchaos protestieren. Stimmt schon. Aber wer ist "wir"? Die Studenten? Es gibt da welche, die wollen nur zügig ihren Bachelor machen und haben von Solidarität noch nie etwas gehört. Sie fragen wütend: "Was machen die Hippies da im Rektorat?" Oder: "Was wollt ihr eigentlich?" Und sie ärgern sich, weil sie keine eindeutige Antwort erhalten: "Den Bachelor abschaffen!", rufen Protestierende ihnen zu, "und den Kapitalismus auch!", schreien einige hinterher.

Zum Bildungsstreik gehört die Vollversammlung, und eine Vollversammlung dauert mal vier und mal sechs Stunden. Manchmal geht es auch dort um den Bachelor und das Rektorat. Doch genauso sehr wie Grundsatzdebatten lieben wir Detailfragen: Dürfen die Jusos den Besetzern Frühstück machen, oder würde das bedeuten, dass wir uns von einer Partei instrumentalisieren lassen? (Dies ist Leipzig; eine sehr, sehr linke Studentenschaft - Jusos gelten hier als reaktionär.) Sagen wir "friedlich" oder besser "gewaltfrei"? Und diskutieren wir eigentlich auch mit Nazis? Es sind zwar keine Nazis da, aber wir diskutieren trotzdem darüber, "damit das einfach mal geklärt ist".

Diskutieren übers Diskutieren

Mal zu zehnt, mal zu hundert sitzen wir auf dem Parkett des Rektorats und diskutieren, worüber wir diskutieren wollen, und in welcher Form. "Ich finde die Redekultur hier total scheiße, alle haben diesen aggressiven Unterton", heißt es dann. Oder: "Dauernd stellt ihr Anträge, die gar keine sind, nur damit ihr schneller reden könnt."

Das ist ermüdend, und so kommt nach der Redekultur die Schlafkultur: "Wie können wir hier alle im Rektorat schlafen, ohne dass wir uns gegenseitig stören?" Über beide Tagesordnungspunkte wird genauso leidenschaftlich gestritten wie über Punkt drei: Wer sind wir, und was wollen wir? Oft wird so lange am Selbstverständnis gefeilt, dass die Versammelten diese Frage hinterher weniger beantworten können als vorher. Als Konsens bleibt übrig: Anti-Rassismus und Anti-Sexismus. Darum geht es zwar nicht beim Bildungsstreik, aber Anti-Rassismus und Anti-Sexismus seien nun mal Grundlage für jedes Handeln, heißt es unter den Studenten.

Keine neue Studentenbewegung

"StudentInnen" oder wenigstens "Studierende" müsste ich eigentlich schreiben, denn rigides "Gendern" muss genauso sein wie Handzeichen geben: Die Redekultur hier sieht vor, dass man wackelnde Hände in die Höhe reckt, wenn man dem Redner beipflichtet, oder dezent aus dem Handgelenk winkt, wenn man eigentlich sagen will: "So eine Scheiße habe ich ja noch nie gehört."

Ich habe gelernt: Es gibt keine neue Studentenbewegung. Es gibt nur einen Haufen Individualisten, der sich schwer tut, gemeinsame Ziele zu erarbeiten - und noch schwerer, sich unter den vielen passiven Studenten Gehör zu verschaffen. Die stört nämlich nicht (oder sie finden es sogar gut), dass es an der Uni nicht mehr um Bildung geht, sondern nur noch um schnelle Abrichtung auf den Beruf. Und wenn sie sich doch einmal auf Diskussionen einlassen, finden sie es sogleich besonders ätzend, dass wir uns dabei nicht zielstrebig und effizient auf das Thema Bildung beschränken, sondern immer auf die großen Dinge zu sprechen kommen, in Richtung Kapitalismus und Globalisierung abgleiten.

Aber wann, wenn nicht jetzt, sollen wir uns darüber Gedanken machen? Dies vor allem hat mich doch dazu bewogen, am Bildungsstreik teilzunehmen, ein Unbehagen an unserer durchökonomisierten Welt. Ich weiß jetzt: Es ist noch diffus, dieses Unbehagen, noch mehr ein Gefühl als schon klare Analyse. Dieses Unbehagen würde ich während meines Studiums gerne präzisieren, artikulieren und in politische Forderungen münden lassen. Aber dafür scheint man mir keine Zeit geben zu wollen.

Um die Wette Quasseln

Schon die Schule ließ uns nie Zeit. Da musste zuerst die Empfehlung fürs Gymnasium ergattert, dort Oberstufenpunkte fürs Abitur gesammelt, mit Lehrern um Noten gefeilscht und für die mündliche Note um die Wette gequasselt werden. Und nun, an der Uni, soll es genauso weitergehen - im Hamsterrad der Creditpoints und Module. Nach dem Bachelor dann der Kampf um einen Masterplatz, um den Einjahresvertrag, den Zweijahresvertrag und vielleicht mal etwas Sichereres, und wenn wir das dann haben, ist es zum Nachdenken zu spät. Dann bereitet man sich aufs Grundschulabitur für die eigenen Kinder vor.

"Das müssten wir eigentlich tiefergehender behandeln, aber dafür haben wir keine Zeit", ist ein Satz, den ich ständig von meinen Professoren höre, die überfordert sind, den Stoff der alten Magister- und Diplomstudiengänge in drei Jahre zu packen. Und nicht nur Zeit ist knapp an der Uni von heute. Ebenso sind es die Plätze für die Module, für den Master, und auch die zum Sitzen. Bekommt man keinen Platz für das Modul, das man gern im Nebenfach studieren würde, muss man von Institut zu Institut rennen und beim Professor um einen Restplatz betteln. Manchmal endet es damit, dass man gegen seinen Willen Sorabistik studiert - wir sind hier in Sachsen, wo es die Sorben gibt, einen sorbischen Ministerpräsidenten und die Wissenschaft dazu.

Der Sinn des Lebens

Studenten drehen heute das große Hamsterrad und viele meinen, sich nicht erlauben zu können, dies einfach anzuhalten, auszusteigen und den Sinn eines Lebens darin in Frage zu stellen. Dass es dennoch so viele Studenten geschafft haben, eben dies zu tun, dass es sogar gelingt, sich mit seinen Rivalen zu solidarisieren (mit denen man gerade noch um einen Medizin-, Praktikums- oder Masterplatz konkurriert hat): Das ist fast schon ein Wunder. Deshalb besetzen wir Hörsäle und nehmen uns die Freiheit, das System in Frage zu stellen. Ist das nicht der eigentliche Sinn von Bildung? Hippies, Anarchisten und angehende Parteipolitiker entdecken Gemeinsamkeiten! Auch wenn wir darüber diskutieren, wie wir diskutieren und darüber abstimmen, ob wir abstimmen, so kommt es doch irgendwann zu einem Ergebnis. Der Bildungsstreik ist auch ein Bildungserlebnis.

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