Süddeutsche Zeitung

Studentenproteste:Der Schrei nach Freiheit

Laut ist der Protest, aber nicht radikal: Warum es Politikern und selbst Wirtschaftsvertretern leichtfällt, Verständnis für die streikenden Studenten zu zeigen.

Katja Riedel und Johann Osel

Schirme, überall Schirme. Rosa, blau, rot, blau-weiß und in Regenbogenfarben spannen sie sich über die Köpfe der Studenten in Jena. Die junge Dame, die das Mikrofon ergreift, sieht mit ihren lilastichigen Haaren ebenfalls bunt aus, sie hat eine angenehme Stimme. Doch das, was sie den gut 1500 Studenten sagen will, feuert sie hinaus wie ein Maschinengewehr. "Selektion", "Hürden", "Verschulung" sind die Schlagworte, die immer wieder unterbrochen werden von Applaus und Trillerpfeifenkonzerten. Ungläubig macht die Rednerin Pausen, schaut geniert in die Runde, als ob sie es gar nicht fassen könnte, so viel Zustimmung zu bekommen. Doch der Frust sitzt offenbar tief. Hier in Jena ebenso wie an Dutzenden anderen Hochschulen in Deutschland.

Es sind nach ersten Schätzungen etwa 80.000 Studenten, die ihre Plakate entrollen oder das hinausschreien, was ihnen am deutschen Bildungswesen gegen den Strich geht. Exakte Zahlen sind schwer zu ermitteln, da der zweite große Bildungsstreik binnen eines halben Jahrs dezentral organisiert wird, von lokalen Bündnissen. Aus 35 Städten melden Polizei, Gewerkschaften und Initiatoren Proteste und oft vierstellige Demonstrantenzahlen.

"Wir sind hier und wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut", hat ein Kölner Student auf ein Plakat geschrieben. Was den 5000 Kölnern, die durch die Straßen ziehen, genauso aufstößt wie ihren Kommilitonen in Düsseldorf, Osnabrück, München oder anderswo, ist die Reform der Studienabschlüsse, das System "Bachelor". Die deutschen Unis sind zum Durchlauferhitzer geworden, und dabei sind einige Schrauben nur nachlässig eingedreht, und manche Heizspirale ist durchgebrannt. Der einheitliche Hochschulraum, den die EU-Bildungsminister 1999 im italienischen Bologna beschlossen haben, hat Unis in bessere Berufsschulen verwandelt, klagen Kritiker.

Die Protestierenden ernten Verständnis: von Bildungsministerin Annette Schavan, vom Präsidenten der Kultusministerkonferenz Henry Tesch, von Landespolitikern, Rektoren, ja sogar von Menschen aus der Wirtschaft, deren Einfluss auf Lerninhalte die Demonstrierenden eigentlich beklagen.

Es ist eine diffuse Mischung, aus der sich die Sympathiebekundungen speisen: Einserseits ist man sich im Klaren, dass bei der überhastet umgesetzten Bolognareform zu viel über einen Kamm geschoren wurde. Andererseits freuen sich ganz besonders diejenigen, die selbst Ende der sechziger Jahre an den Unis protestiert haben, dass die lange als unpolitisch erlebte Jugend endlich einmal aufbegehrt. Doch dürfen diese Massen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es längst nicht "die Studenten" sind, die ihre Stimme erheben.

Derzeit sind etwa zwei Millionen Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben - sollten die Zählungen des Protesttags auf insgesamt 10.0000 Studenten kommen, wäre das nicht gerade eine breite Basis. Das liegt wohl auch daran, dass nur wenige auf eine komplette Reform der Reform drängen, sondern erst einmal abwarten, was aus dem wird, was bereits versprochen wurde. Auch in so bewegten Zeiten wie diesen finden an Unis Vorlesungen statt, mancherorts ist von Protesten gegen den Protest zu hören, nicht nur von Seiten konservativer Studentenverbände.

In Würzburg sorgten Wirtschaftswissenschaftler in der vergangenen Woche per Abstimmung dafür, dass Protestierende einen Hörsaal umgehend räumen mussten. Besetzungen seien der falsche Weg, mehr Bildung zu erkämpfen, meinte am Dienstag auch der traditionell konservativ geprägte AStA der Bonner Universität.

Während die einen also Transparente entrollen und Hörsäle besetzen, geht für die anderen der Studienalltag weiter. So auch für Lena Marg, 20, die in Hamburg im ersten Semester Jura studiert. Erstsemester seien an ihrer Uni kaum in den Protest involviert, sagt sie. Von den Studentenprotesten erfahre sie vor allem aus der Zeitung. Es ist ihren Beobachtungen zufolge nur ein eher kleiner Kreis, der einen Hörsaal besetze. Hier und da mal ein Flyer, erzählt sie, ansonsten gehe der Protest an der großen Uni fast unter. Auch gegen die Studiengebühren wolle sie nicht protestieren: "Ich wollte ja unbedingt nach Hamburg, in meiner Heimat Hessen hätte ich kostenlos studieren können."

Gerade in Hessen, wo die Studiengebühren längst abgeschafft wurden, ist man Radikaleres gewöhnt. In den neunziger Jahren boykottierten Studierende in Gießen, Marburg oder Frankfurt über Wochen jegliche Lehrveranstaltung, wer trotzdem versuchte, eine solche abzuhalten oder dieselbe zu besuchen, wurde ausgepfiffen. In den vergangenen zehn Jahren wurden aus Protest gegen Studiengebühren Rektorate besetzt, Straßen und Bahngleise blockiert, einmal rannte eine Horde nackter Studenten durch Berlin. So betrachtet sind die Mittel, derer sich die "2009er" bedienen, geradezu harmlos.

Der Soziologe Tino Bargel untersuchte jüngst den Wandel politischer Orientierungen bei Studenten. Trotz des großen Bildungsstreiks hält er die meisten Studenten für politisch eher desinteressiert. Er hat einen fundamentalen Wandel festgestellt: "Statt Idealisten sehen wir viel mehr Utilitaristen, die einfach nur konsumieren."

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Quelle:
SZ vom 18.11.2009/beu
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