Studenten-Ansturm:Warum den deutschen Unis ein Qualitätsverlust droht

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Eigentlich waren die deutschen Hochschulen seit der Jahrtausendwende auf einem guten Weg. Doch nun steht ihnen wegen der doppelten Abiturjahrgänge und der abgeschafften Wehrpflicht ein Studenten-Ansturm bevor - und der könnte die guten Entwicklungen der Vergangenheit ins Gegenteil kehren.

Werner Müller-Esterl

Die Zahlen verheißen nichts Gutes. Soeben hat in bevölkerungsstarken Ländern wie Bayern oder Niedersachsen der erste doppelte Abiturientenjahrgang die Hochschulreife erlangt, schon ist die Rede von 50 000 Studienplätzen, die im kommenden Wintersemester noch fehlen. Was für ein verheerendes Signal an die Jugendlichen! Gestern noch ist eine gymnasiale Schulreform auf ihrem Rücken ausgetragen worden, morgen schon könnten sie vor verschlossenen Toren an den Hochschulen stehen. Spätestens dann würde das geflügelte Wort von der "lost generation" Wirklichkeit, der verlorenen Generation. Junge Menschen sind in einer Zeit chancenlos, in welcher der Arbeitsmarkt händeringend Fachkräfte sucht. Doch was sollen Hochschulen tun, wenn eine Politik die Fehler der 1970er Jahre erneut zu begehen droht?

Sitzen, wo Platz ist: Im nächsten Semester droht den Hochschulen ein Studenten-Ansturm, auf den sie schlecht vorbereitet sind. (Foto: dpa)

Dabei waren die deutschen Universitäten eigentlich auf einem guten Weg. Seit Ende der 90er Jahre hatten sie sich in einem Ausmaß modernisiert wie seit Humboldts Reform vor 200 Jahren nicht mehr. In einigen Bundesländern gelang es ihnen, sich zunehmend aus der staatlichen Bevormundung zu lösen und Freiheiten in Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung zurückzuerobern, die in vielen Jahren staatlicher Überregulierung und bildungspolitischer Gleichmacherei verloren gegangen waren. Jetzt lautete die Maxime: mehr Autonomie und Wettbewerb, aber auch mehr Differenzierung und Profilierung. Keine leichte Aufgabe für Hochschulleitungen und Gremien, die soeben noch Anweisungen von der Ministerialbürokratie erhalten hatten und eher nachgeordnete Behörden denn autonome Institutionen waren.

Auslöser dieses überfälligen Reformprozesses war das Aufkommen nationaler und internationaler Hochschulvergleiche, der Rankings, die - wenngleich auch mit bisweilen problematischer Methodik - erstmals so etwas wie eine Transparenz der Leistungsfähigkeit von Bildungseinrichtungen schufen. Die ernüchternde Erkenntnis: Deutsche Schulen und Hochschulen sind im internationalen Vergleich bei weitem nicht so gut wie sie - wir - es immer geglaubt hatten. Insbesondere an Universitäten wurden mangelnde Innovationsfähigkeit, hohe Abbrecherquoten und überlange Studienzeiten sowie eine ungenügende Ausstattung ausgemacht. Ein Schock für die Bildungsrepublik Deutschland, als sie feststellen musste, dass sie im OECD-Schnitt eher auf den hinteren Rängen des Mittelfeldes dümpelte.

Doch es war ein heilsamer Schock! Denn vielerorts starteten nun Qualitätsoffensiven. Die Bildungspolitik steuerte um und brachte 2004 die Exzellenzinitiative auf den Weg. Nach Jahrzehnten stagnierender Hochschuletats wuchsen die Grundbudgets wieder, die Drittmitteltöpfe wurden üppiger. Hessen etwa investierte mit seinem "Heureka"-Programm Milliarden in den Hochschulbau und startete mit "Loewe" eine generös ausgestattete landeseigene Exzellenzinitiative.

Mancherorts begannen Diskussionen darüber, wie Universitäten mehr Autonomie erhalten könnten, um ihre inneren Kräfte besser zu entfalten und international konkurrenzfähiger zu werden. Und zur Überraschung nicht weniger folgten den Worten auch Taten: So errang etwa die Frankfurter Goethe-Universität den Status einer Stiftungsuniversität und erhielt vom Land Hessen Spielräume, die ihresgleichen suchen: Sie beruft ihre Professoren selbst, verwaltet ihre Immobilien in eigener Regie und regelt den Hochschulzugang. Sie kann bei Bedarf neue Studiengänge einrichten und andere schließen. Kurzum, sie handelt in allen Kernaufgaben selbständig.

Nach der Jahrtausendwende herrschte also Aufbruchstimmung an deutschen Hochschulen. Man hatte den Eindruck, dass sich die Fehler der 1970er Jahre, als die Universitäten schon einmal hemmungslos vollliefen, nicht mehr wiederholen würden. Weit gefehlt! Der Ansturm der Studierenden infolge doppelter Abiturjahrgänge und abgeschaffter Wehrpflicht droht gute Entwicklungen der Vergangenheit ins Gegenteil zu verkehren.

So wendet sich der viel gepriesene Wettbewerb zum Beispiel an hessischen Universitäten in einen geradezu ruinösen Wettlauf um möglichst viele Studierende in der Regelstudienzeit, weil mehr als 80 Prozent (!) der staatlichen Grundfinanzierung nach genau diesem Kriterium zugeteilt werden. Auch die Zusatzmittel aus dem Hochschulpakt 2020 tragen hier nur bedingt zur Entspannung bei, da sie bei weitem nicht ausreichen, um Studienplätze - insbesondere in experimentellen Fächern - auskömmlich, geschweige denn dauerhaft zu finanzieren.

Dies wird nicht folgenlos bleiben; zumal wenn Länder ihre soeben erst mühsam vom Bund errungenen Aufgaben nicht erfüllen und Hochschulen nicht angemessen ausstatten können. Denn das Handeln der Länder bestimmt immer häufiger die Schuldenbremse mit striktem Sparkurs - und immer weniger das Bekenntnis zum Primat der Bildung. Der universitären Forschung droht nun wieder einmal ein substantieller Qualitätsverlust.

Sollten die Universitäten nicht soeben noch internationales Spitzenniveau erzielen? Wie aber wollen Wissenschaftler ernsthaft forschen, wenn sie immer mehr Studierende betreuen und die verbleibende Arbeitszeit aufgrund rückläufiger Budgets für das Schreiben von Drittmittelanträgen aufwenden müssen? Wie kann eine Universität noch Spitzenforscher aus dem Ausland gewinnen, wenn diesen keine attraktiven Arbeitsbedingungen mehr geboten werden können? Die deutsche Universitätsforschung wird weiter ins Hintertreffen geraten - endgültig dann, wenn von 2017 an die Mittel der Exzellenzinitiative versiegen.

Während die vom Bund finanzierte außeruniversitäre Spitzenforschung Jahr für Jahr mit substanziellen Aufschlägen rechnen kann, verlieren die von den Ländern unterhaltenen Universitäten teilweise deutlich an Substanz. Die Schere geht von Jahr zu Jahr weiter auf. Eine Ausdünnung der Universitätsforschung hätte jedoch fatale Folgen für die Qualität der Forschung "Made in Germany".

Will sich unser Land nicht verabschieden vom Grundsatz einer "Einheit von Forschung und Lehre", müssen mehr Mittel in die Universitätsforschung fließen - am besten durch eine erneute Föderalismusreform, wie sie mittlerweile von immer mehr Seiten gefordert wird: Angesichts der Überforderung vieler Bundesländer mit einer auskömmlichen Finanzierung ihrer Universitäten muss der Bund hier wieder tätig werden dürfen.

Werner Müller-Esterl, 63, ist Professor für Biochemie und seit Anfang 2009 Präsident der Goethe-Universität Frankfurt.

© SZ vom 04.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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