Stellen Sie sich Folgendes vor: Beim nächsten Meeting im Büro fordert der Chef alle am Konferenztisch auf, eine Minute die Auge zu schließen. Sie sollen sich klarmachen, wie sich der Raum anfühlt, in dem sie gerade sitzen, und ihren Atem spüren. Sie sollen ihren Körper wahrnehmen und kurz überlegen, worum es ihnen bei dem Treffen geht. Dann machen alle die Augen wieder auf, voll konzentriert geht das Meeting los.
Das klingt esoterisch? Solche Übungen werden bereits in Firmen praktiziert. Das Konzept dahinter heißt Achtsamkeit. Befürworter versprechen sich davon mehr Konzentration - doch was ist dran? Ähnlich wie sich Yoga-Studios im ganzen Land verbreiten, gibt es heute kaum noch eine Kleinstadt ohne Achtsamkeitskurs. In den Buchhandlungen stapeln sich die Ratgeber.
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Prioritäten setzen, Grenzen ziehen
Ein Grund für den Hype: Achtsamkeit ist ein Gegenstück zum hektischen Lebensstil, zu Multitasking und digitaler Dauerablenkung. Außerdem hat das Konzept eine Antwort auf ein Problem, das viele Menschen haben: Stress. Inzwischen hat deshalb auch die Arbeitswelt Achtsamkeit entdeckt. Wer Achtsamkeit beherrscht, soll besser Prioritäten setzen, Grenzen ziehen und sich fokussieren können - so das Versprechen.
Das spricht Berufstätige an, deren Arbeit sich zunehmend verdichtet und die das Gefühl haben, dass sie ihre To-do-Liste nicht mehr in den Griff kriegen. Johannes Michalak von der Universität Witten/Herdecke, der zum Thema Achtsamkeit forscht, warnt allerdings vor übergroßen Erwartungen: "Achtsamkeit hilft bei der Stressprävention und bei vielen körperlichen und psychischen Störungen, ist aber kein schnelles Allheilmittel."
Das Konzept kommt ursprünglich aus dem Buddhismus und geht in seiner hier praktizierten Form häufig auf den Amerikaner Jon Kabat-Zinn zurück. Der Biologe hat Ende der 70er Jahre das Programm "Mindfulness-Based Stress Reduction" entwickelt. Dieser achtwöchige Kurs wurde ursprünglich zur Behandlung von Patienten eingesetzt, die als austherapiert galten, also Menschen mit chronischen Erkrankungen oder psychischen Beschwerden, bei denen Medikamente nicht halfen. Für sie entwickelte er die Achtsamkeitstherapie mit Prinzipien, die aus dem Bereich östlicher Meditationstraditionen und dem Yoga stammen.
"Achtsamkeit ist eine Haltung, die man durch Meditation versucht, einzuüben. Es geht darum, im Hier und Jetzt zu sein und sich wohlwollend zu begegnen", erklärt Professor Michalak.
Schon beim Frühstück gestresst
Ein Beispiel: Wer mehr Punkte auf der täglichen To-do-Liste hat, als zu schaffen sind, ist meistens schon morgens beim Frühstück gestresst. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts passiert - es gibt zu dem Zeitpunkt noch keine Aufgabe, die unerledigt geblieben ist. Wer Achtsamkeit praktiziert, versucht erst einmal, sich auf den Moment zu konzentrieren und wahrzunehmen, was die eigenen Gefühle sind, erklärt Günter Hudasch, Vorstandsmitglied im MBSR-MBCT-Verband, dem Zusammenschluss der Achtsamkeitslehrer in Deutschland. Statt intuitiv auf die volle To-do-Liste mit Stress zu reagieren, tritt man einen Schritt zurück. So kann man mit einem klareren Kopf eine Entscheidung treffen, wie mit der Situation umzugehen ist. "Eigentlich ist es ein Programm, mit dem man Freiheit gewinnt", sagt er.
Während Achtsamkeit als Behandlungsmethode in der Psychotherapie und im klinischen Kontext recht gut erforscht ist, gibt es wenig Forschung zum Thema Achtsamkeit und Arbeitswelt. Eine, die sich damit befasst, ist Ute Hülsheger, assoziierte Professorin an der Fakultät für Psychologie und Neurowissenschaft an der Universität Maastricht. In einer Studie konnte sie zeigen, dass Menschen, die bei der Arbeit im direkten Kontakt mit anderen sind, weniger Stress erleben, wenn sie achtsam sind. "Wir wissen aber zum Beispiel noch nicht, ob Achtsamkeit bei der Stressprävention besser wirkt als andere Methoden wie die Progressive Muskelprogression", sagt sie.
Wer davon träumt, mit Achtsamkeit seine persönliche Leistungsfähigkeit zu optimieren, sollte ebenfalls vorsichtig sein. "Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob Achtsamkeit die Leistung erhöht", sagt Hülsheger. Und noch in einem anderen Punkt sind sich alle drei Experten einig: Stimmen die Rahmenbedingen bei der Arbeit nicht, weil es zum Beispiel zu wenig Personal oder zu viele Aufgaben gibt, dann hilft auch kein Achtsamkeitskurs, um diese Probleme zu lösen. "Es besteht die Gefahr, dass dem Mitarbeiter die Verantwortung zugeschoben wird, sich noch mehr zu optimieren", sagt Hülsheger. Doch ist das nicht der Fall, könne Achtsamkeit eine gute Methode sein, um sich selbst eine Strategie für den Umgang mit Stress anzueignen.
"Im Kontakt mit sich und seinen Werten"
Wer sich mit Achtsamkeit befassen will, kann sich erst einmal autodidaktisch einlesen. Eine andere Möglichkeit ist, einen Kurs zu besuchen. Einige Krankenkassen bezuschussen sie inzwischen. Bei der Auswahl des Lehrers sollte man auf eine qualifizierte Ausbildung sowie auf eine langjährige Praxiserfahrung achten, rät Michalak von der Universität Witten/Herdecke.
Wer sich auf Achtsamkeit einlassen kann und Zugang bekommt, hat im besten Fall viel zu gewinnen. "Man sagt, man ist damit besser im Kontakt mit sich und seinen Werten", sagt Hülsheger. Und wer weiß: Im besten Fall geht mit der Achtsamkeitsübung zu Beginn des Meetings das Treffen einfach schneller und konzentrierter vorbei.