Stress im Beruf:Erst abschalten, dann aufdrehen

Arbeiten bis zum Umfallen: Viele Menschen nehmen die Probleme aus ihrem Job mit nach Hause. Doch nur wer in der Freizeit die Arbeit vergisst, kann im Beruf mehr leisten.

Sebastian Herrmann

Alles ist zu viel. Immer. Die Stapel auf dem Schreibtisch wachsen stetig in die Höhe, werden umsortiert, hin und her geschoben und erinnern den Büromenschen doch nur ans tägliche Scheitern. Wieder die eigenen Ansprüche verfehlt, wieder nicht alle Mails beantwortet. Nach Dienstschluss fällt dann zwar die Bürotür ins Schloss, doch die Arbeit begleitet viele Menschen nach Hause und ins Privatleben.

Burn-out: Stress im Beruf

Ruhe zum Feierabend: Die Freizeit ist dazu da, Kraft für den Job zu schöpfen. Das ist nun sogar wissenschaftlich nachgewiesen.

Das E-Mail-Postfach lässt sich auch auf dem Smartphone checken, während die Kinder die Zähne putzen. Am Projekt lässt sich auch am Wochenende feilen. Und wer sich doch mal mit Freunden trifft, hat nun sein Publikum, um über Stress, Belastung, Leistung und andere Schlagwörter des Arbeitsalltags zu schwadronieren.

Doch stopp! Die folgende Nachricht sollte besonders die ehrgeizigen High-Performer interessieren: Wem es wider Erwarten gelingt, Arbeit und Freizeit sauber zu trennen und die Gedanken an den Job nach dem Feierabend und am Wochenende aus dem Kopf zu verbannen, der leistet im Beruf mitunter mehr. Wer abschalten kann, der arbeitet anschließend besser, berichtet Sabine Sonnentag von der Universität Mannheim in einer Überblicksarbeit im Fachblatt Current Directions in Psychological Science (Bd. 21, S. 114, 2012).

Die Psychologin hat für die Veröffentlichung Studien ausgewertet, die sich mit den Auswirkungen der psychischen Abgrenzung von Beruf und Freizeit beschäftigen. Die Seiten lesen sich wie ein Plädoyer für die unbeschwerte Freizeit, wie ein Aufruf, den Beruf am Abend und am Wochenende zu vergessen. Denn kurz gesagt birgt dieses Verhalten, das sich scheinbar nicht mit dem Leistungsgedanken der Gegenwart vereinbaren lässt, eine ganze Reihe von Vorteilen.

"Empirische Studien haben gezeigt, dass Angestellte, die sich in der Freizeit in Gedanken eher von ihrer Arbeit lösen können, zufriedener mit ihrem Leben sind, weniger Symptome psychischer Belastung zeigen und trotzdem im Beruf engagiert sind", schreibt Sonnentag. So zeigten finnische Psychologen um Marjo Siltaloppi von der Universität Tampere in einer Studie im Fachblatt Work & Stress zum Beispiel, dass der Grad des Engagements sowie der Identifikation eines Angestellten mit Beruf und Unternehmen eben nicht davon abhängt, ob ihn Gedanken an die Arbeit in die Freizeit begleiten. Ein guter Angestellter zu sein und die Firma am Wochenende zu vergessen, schließt sich nicht aus.

Den Kopf freimachen

Im Gegenteil - wer sich gedanklich nicht von seiner Arbeit lösen kann, der leidet eher an Schlafstörungen, Erschöpfung und anderen Belastungssymptomen. Die Auswirkungen zeigten sich nicht nur langfristig, sondern offenbarten sich selbst von Tag zu Tag, schreibt Sonnentag. Wer nämlich abends ohne psychischen Ballast den Arbeitsplatz verlässt, der geht schon ausgeruhter, ruhiger und mit besserer Laune ins Bett.

Auch am nächsten Morgen zeigt sich der Vorteil des freien Kopfs, berichtet Sonnentag aus einer Studie, an der sie beteiligt war: "Je stärker sich Angestellte in Gedanken von ihrer Arbeit lösen können, desto ausgeruhter und weniger gereizt waren sie am nächsten Morgen." Und das gelte selbst dann, wenn die Probanden alle gleich viel geschlafen hatten und selbst die subjektiv erlebte Qualität der Nachtruhe bei den entspannten und den von der Arbeit getriebenen Menschen auf dem gleichen Niveau gelegen hatte.

Zeit- und Leistungsdruck empfinden Menschen mit gedanklich getrennten Lebenssphären ebenfalls als weniger gravierend. Das schließt Sonnentag aus einer langfristig angelegten Untersuchung, die die Psychologin zusammen mit Kollegen im Jahr 2010 im Journal of Applied Psychology veröffentlicht hat. Wer abschalten kann, den plagten bei steigendem Stress und Druck im Beruf nach Ablauf eines Jahres im Schnitt nicht mehr psychosomatische Beschwerden. Das Befinden dieser Angestellten blieb stattdessen stabil. Probanden, die in der Freizeit regelmäßig über berufliche Themen grübelten, klagten hingegen im Laufe der zwölf Monate verstärkt über seelische Beschwerden.

Als Sonnentag und ihr Team für eine weitere Studie vier Wochen lang die Gedankenwelt von Angestellten untersuchten, zeigte sich ein Effekt, der Arbeitgeber besonders interessieren könnte: Wer am Wochenende auch im Kopf Freizeit hatte, startete mit deutlich mehr Elan in die Woche und leistete vor allem mehr eigenständige und proaktive Arbeit. Die Psychologin weist in ihrem Überblicksartikel allerdings auf eine Untersuchung von Kollegen um Charlotte Fritz von der Portland State University hin, die diesen Befund zumindest etwas relativiert: Wer sich in der Freizeit komplett in andere Welten versenkt, in denen gar kein Platz mehr für Gedanken an seine Arbeit ist, glänzt zu Beginn der Woche kaum mit Höchstleistungen. Es dauere wohl, bis sich solche Menschen wieder in ihre Tätigkeit eindenken können, mutmaßt Sonnentag.

Fraglich bleibt allerdings, wie es dem durchschnittlichen Angestellten gelingen soll, sich innerlich ein wenig zu lockern und die eigenen Ansprüche etwas zu mildern. Die Wissenschaft empfiehlt, sich Freizeitbeschäftigungen zu suchen, die dem Leben Bedeutung verleihen - etwa soziales Engagement. Ein schönes Hobby oder eine Familie könnten auch helfen.

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