Süddeutsche Zeitung

Streit um Schulnoten:Böse Eltern

Schuld ist immer nur die Schule: Wie Eltern mit Prozessen und Beschwerden das Klima an den Schulen vergiften.

Johan Schloemann

Unser Junge hat eine Fünf in Mathe. In der Klassenarbeit, ja sogar im Zeugnis. Was tun die besorgten, entrüsteten Eltern? Sie nehmen sich den Mathematiklehrer vor. Er muss etwas falsch gemacht haben. Die Rotstiftmarginalien werden minuziös durchforstet, nach Versehen und unberechtigten Härten, nach Widersprüchen und Inkonsequenzen. Ob die Note nicht nachträglich aufzubessern ist? Es kann doch, finden die Eltern, einfach nicht wahr sein - bei der netten Frau Schmidt lag der Junge doch immer zwischen drei und vier. Die Eltern lassen nichts unversucht, sie gehen durch die Instanzen, Schulleitung, Schulaufsicht, Ministerium. Und wenn es um die Versetzung oder ein Abschlusszeugnis geht - denn in dem Fall ist die Note nicht bloß eine Note, sondern ein Verwaltungsakt -, dann ziehen sie vor Gericht gegen diesen unfähigen Lehrer. Dann dürfen Richter im Namen des Volkes beurteilen, ob dieser oder jener Schnitzer bei der Vektorenrechnung nicht doch nur mit einem halben Fehler zu bewerten wäre.

Auf die Idee, dass der Sohnemann, wenn er schon eine Fünf hat, dumm oder faul oder möglicherweise gar beides sein könnte, auf diese Idee aber kommen die Eltern nicht. Überhaupt, was sind das denn für archaische Vokabeln, dumm und faul? Das klingt ja nun gar nicht gerecht oder entwicklungsfördernd oder sonstwie lernatmosphärisch positiv. Die Chancen auf Erfolg im Leben verbaut doch die Schule dem Schüler, nicht etwa der Schüler sich selbst!

Im zweiten Band seiner "Theorie des kommunikativen Handelns", die er 1981 vorlegte, hat Jürgen Habermas die wachsende Verrechtlichung der Lebenswelt beklagt. In kritischer Fortschreibung von Analysen Max Webers und Karl Marx" beobachtete er, wie sich ein notwendiges Emanzipationsinstrument zu einer Krake entwickelt, wenn die "Systemperspektive des bürgerlichen Staates" sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu erfassen droht: Aus dieser Perspektive müsse "alles, was nicht in den Formen des modernen Rechts konstitutiert ist, als formlos erscheinen". Als abschreckendes Beispiel beschrieb Habermas damals gerade das Schulrecht, auf das sich Eltern und Schüler berufen: Der damit beabsichtigte Schutz vor Willkür werde "mit einer tief in die Lehr- und Lernvorgänge eingreifenden Justizialisierung und Bürokratisierung erkauft".

Verrechtlichung und Harndrang

Ein Vierteljahrhundert später ist die Situation nicht besser geworden. Auch wenn man noch so oft idealtypisch ein Miteinander von Eltern, Lehrern und Schülern beschwört: Der so genannte Pisa-Schock wurde so gut wie ausschließlich als Versagen einer Institution wahrgenommen, einer Institution, die nicht leistet, was man für seine Steuergelder erwarten kann. So verstärkt sich, was Habermas konstatierte: Schule wird von einer staatlichen Bildungseinrichtung zu einer Instanz der Sozialtechnologie, die der Verteilung von Lebenschancen dient - und an die somit entsprechend formalisierte Ansprüche gestellt werden können wie an ein Dienstleistungsunternehmen oder eine moderne Sozialbehörde.

Aus dieser Verrechtlichung der Schule nun, die teils aus der in der Verfassung verbrieften Erziehungshoheit der Eltern, teils aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleitet wird, ergibt sich paradoxerweise nur eine Potenzierung der Ungleichheit.

Denn auf der einen Seite stehen die vielen Familien, die sich überhaupt nicht um die Schullaufbahn ihrer Kinder kümmern. Das sind die sozialen Milieus, bei denen für die Lehrer zweifelhaft ist, ob die Schüler zu Hause gefrühstückt haben, ob sie einen eigenen Schreibtisch für ihre Hausaufgaben besitzen, ob sie gelernt haben, wie man Schnürsenkel bindet, und ob nicht möglicherweise seit dem dritten Lebensjahr ein Fernseher in ihrem Kinderzimmer steht. Also die Milieus, für deren Kompensation man sich so viel von der Ganztagsschule verspricht, und die übrigens in allen Schulformen, auch im Gymnasium, vertreten sind.

Auf der anderen Seite aber lauert die obere Mittelschicht, bereit, sich auf jeden wirklichen und vermeintlichen Fehler des Lehrers zu stürzen. Das sind die Eltern, die sich wegen ihres eigenen Bildungsabschlusses einbilden, einen möglichst guten Schulerfolg ihres Nachwuchses notfalls mit dem Rechtsanwalt erzwingen zu können; Eltern, deren Kinder dem Lehrer mit der Schulordnung in der Hand vorhalten, er dürfe jetzt keinen Vokabeltest schreiben lassen, weil er diesen eine Woche vorher hätte ankündigen müssen - was in einigen Bundesländern tatsächlich der Fall ist, so dass pädagogisches Ermessen durch semantische Verrenkungen wie "Schriftliche Hausaufgabenkontrolle" ersetzt wird; Eltern, die sich grundsätzlich gleich bei einer höheren Hierarchiestufe beschweren, anstatt die Sprechstunde des Lehrers aufzusuchen, und so das Schulklima eifrig vergiften. Bis sich die Feigen unter den Lehrern nicht mehr trauen, eine Sechs zu geben, wo die Leistung des Schülers keine andere Note zulässt.

Es fällt beinahe schon schwer, zwischen dieser Zweiteilung der Elternhäuser noch die Normalität einer konstruktiven Anteilnahme an einem Bildungsgang zu entdecken, der ja im Rahmen der Schulpflicht notwendig auch ein kollektiver, gemeinschaftlicher ist. Welche grotesken Formen die Verregelung der Schule und damit ihr Autoritätsmangel angenommen hat, lässt sich an neuen Rechtsratgebern ablesen wie dem gerade erschienenen Buch "Elternrechte in der Schule. So machen Sie sich stark für Ihr Kind" von Thomas Böhm (Ernst Reinhardt Verlag, 2007). Der Autor unterrichtet zwar Schulrecht an einem Institut für Lehrerfortbildung und streut daher durchaus Warnungen an die Eltern ein, das Gespräch mit den Pädagogen nicht komplett der Rechthaberei zu opfern; aber die Fälle, die er zusammenträgt, und die Tipps, die er zu "Dienstaufsichtsbeschwerden" und Anwaltsgebühren gibt, künden vom Gegenteil.

Da ist die Mahnung, kein Klassenfoto auf der Homepage der Schule ohne individuelle Einwilligung einzustellen. Die Mutter einer Schülerin der sechsten Klasse erstattete Anzeige gegen eine Lehrerin wegen Körperverletzung, weil diese keine generelle Erlaubnis erteilte, während des Unterrichts zur Toilette zu gehen: "Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein, da jeder Schüler, der eine fünfte oder sechste Klasse besucht, in der Lage sein müsse, seinen Harndrang bis zu den Pausenzeiten zu kontrollieren." Wer einen Schüler, der gestört hat, vor die Tür stellen will, hat wegen der Aufsichtspflicht inzwischen schwere Rechtsprobleme - er muss entweder die Tür offen stehen lassen, um den gemaßregelten Schüler aus dem Augenwinkel beobachten zu können, oder sicherstellen, dass dieser davon ausgeht, dass seine Anwesenheit im Flur regelmäßig kontrolliert oder er zwischendurch wieder hereingerufen wird. Und so weiter.

Ein weiterer Indikator für das Eindringen des Rechtsdenkens in die Sphäre der Bildung sind "Erziehungsverträge", die gerade in Problemschulen neuerdings häufig, und in bester Absicht, geschlossen werden: Also Vereinbarungen, in denen die Schüler geloben, die Hausaufgaben zu machen oder kein Schuleigentum zu vandalisieren, oder die Lehrer zusagen, bei Schwierigkeiten das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Hier handelt es sich, wie der Schulrechtler richtig feststellt, "um pädagogische Hilfsmittel zur Verdeutlichung und Konkretisierung der ohnehin bestehenden Rechte und Pflichten im Schulverhältnis".

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Natürlich gibt es viele schlechte Lehrer und auch manche furchtbare. Viele genügen weder ihrem fachlichen noch ihrem erzieherischen Auftrag. Aber die Kombination aus Ignoranz und wachsendem Beschwerdewesen auf Seiten der Eltern ist bestimmt nicht geeignet, diese Lage in irgendeiner Hinsicht besser zu machen.

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Quelle:
SZ vom 19.4.2007
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