Start ins Ausbildungsjahr:Bauchfrei zum Dienst

Die Zahlen erschrecken: Jeder fünfte Auszubildende bricht seine Lehrstelle ab. Jeder fünfte Schulabgänger gilt als nicht ausbildungsreif. Was ist los mit der Jugend? Experten sind ratlos.

Jonas Viering

Spitzenreiter im Krankenstand seien seine Azubis. Von der Berufsschule kämen Briefe, dass die Lehrlinge dort auch immer wieder fehlten. Und bei zeitlich drängenden Aufträgen "weisen sie zwanzig Minuten vor Arbeitsschluss undezent darauf hin, in Kürze Feierabend zu haben" - der Unternehmer Lutz Irgel, 70, regt sich auf über die jungen Leute in seinem kleinen Bornheimer Chemiebetrieb.

Start ins Ausbildungsjahr: Frösteln wegen bauchfreien T-Shirts: Viele Auszubildende zeigen Mängel bei Durchhaltevermögen, Teamfähigkeit und Höflichkeit. Das misst Pisa nicht.

Frösteln wegen bauchfreien T-Shirts: Viele Auszubildende zeigen Mängel bei Durchhaltevermögen, Teamfähigkeit und Höflichkeit. Das misst Pisa nicht.

(Foto: Foto: dpa)

"Weibliche Azubis zeigen, was sie - optisch - zu bieten haben, legen handbreit unter dünnem T-Shirt den Nabel blank, frösteln deshalb und arbeiten in Büros, die bei 22 Grad Außentemperatur eigens sonderbeheizt werden", so erzählt er schaudernd. Zwar räumt er ein, dies seien Einzelfälle, doch er hält sie für symptomatisch. Und das Sozialverhalten stört ihn mehr als Lücken in der Schulbildung, die er fast schon normal findet.

Ausbildungsfähig und ausbildungswillig?

Klagen wie diese sind im Arbeitgeberlager allenthalben zu hören. So heißt es denn auch im umstrittenen Pakt für Ausbildung zwischen Wirtschaft und Regierung, alle Jugendlichen sollten untergebracht werden, die - so die markante Einschränkung - "ausbildungsfähig und ausbildungswillig" sind. Das klingt eindeutig, ist es aber nicht. Am Montag etwa tüftelte wieder eine Arbeitsgruppe in der Bundesagentur für Arbeit an den Begriffsdefinitionen. Ohne klare Kriterien aber gibt es auch keine statistische Erfassung, exakte Zahlen fehlen also.

Mit rund zwanzig Prozent bezifferte jüngst die Chefin des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) die Menge der Schulabgänger, die nicht ausbildungsreif sind. Dabei stützte sie sich auf die Pisa-Studie zu Mängeln 15-jähriger Schüler im Lesen, Schreiben und Rechnen. Dies lässt sich aber nicht eins zu eins auf die Lehrstellenbewerber übertragen, wie es Wirtschaftsvertreter gerne tun.

Zum einen: Wer von der Bundesagentur für Arbeit als ausbildungssuchend geführt wird, muss vorher zum Berufsberater. Und der schickt Jugendliche mit schweren Defiziten erst einmal in Berufsvorbereitungsjahre; soweit zumindest die Theorie. Zum anderen sind es vor allem Mängel bei Durchhaltevermögen, Teamfähigkeit, Höflichkeit, auf die es ankommt; derlei aber misst Pisa nicht.

Infobusse auf Schulhöfen

So attackieren Gewerkschafter Pauschalurteile. Die Diskussion über die Defizite der Bewerber diene dazu, "vom Hauptproblem abzulenken, dass nämlich die Zahl der Lehrstellen einfach zu klein ist", wie Verdi-Jugendreferent René Rudolf erklärt, der selbst erst 30 Jahre alt ist. Dennoch: Auch er sagt, das Problem der Ausbildungsfähigkeit sei real. "Wir sind uns da mit den Arbeitgebern einig: In der Schule muss etwas getan werden", erklärt der Ausbildungsexperte der IG Metall, Klaus Heimann. Das gelte gerade auch für die Sozialkompetenz, die manches Elternhaus offenbar einfach nicht mehr vermittelt.

Arbeitgeber wie Gewerkschafter räumen ein, dass sie auch selbst mehr helfen sollten. So treten hier und da bereits Azubi-Vertreter vor Schülern auf, "um als fast Gleichaltrige zu erzählen, was im Betrieb Sache ist", wie Heimann berichtet. Und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall schickt neun Infobusse über die Schulhöfe.

Tatsächlich bricht laut IAB jeder Fünfte seine glücklich ergatterte Lehre selbst wieder ab; in einem großen Teil der Fälle deshalb, weil der Jugendliche sich den Job anders vorgestellt hatte.

Allerdings weisen Wissenschaftler darauf hin, dass nicht einfach die Jugendlichen immer schlechter werden, sondern die Anforderungen für viele Berufe heute viel höher sind als früher. Und die Betriebe steigerten angesichts des Überangebots an Bewerbern ihre Ansprüche, sagen die Arbeitsmarktforscher vom IAB. "Ganz schließen kann man die Ausbildungslücke allein durch bessere Qualifikation derzeit nicht", sagt denn auch der Experte von Gesamtmetall, Sven-Uwe Räß. "Das wäre gelogen."

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