Ständig auf Achse:Die Leiden moderner Nomaden

Im Ausland studieren, für den Job den Ort wechseln, immer wieder von Neuem anfangen: Warum der heutige Zwang zur Mobilität belastet. Ein Interview über die Kehrseite des modernen Vagabundentums.

Heute Oslo, morgen Osaka - die Beschleunigung der Prozesse in der Arbeitswelt zwingt immer mehr Menschen zu einer Existenz als Job-Nomaden. Hartmut Rosa, Soziologieprofessor an der Universität Jena, zeigt in seinem Buch ,,Beschleunigung'' (Suhrkamp Verlag), wie die zunächst befreiende Wirkung der Geschwindigkeitssteigerung bei Transport, Kommunikation und Produktion in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen droht.

Im Ausland studieren, für den Job den Ort wechsel, immer wieder von Neuem anfangen: Der heutige Zwang zur Mobilität kann auch belasten. Ein Interview über die Kehrseite des modernen Vagabundentums.

Immer unterwegs, ohne je anzukommen: der globalisierte Arbeitnehmer.

(Foto: Foto: iStockphoto)

SZ: Grenzenlose Mobilität ist heute ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Das war nicht immer so. Was ist passiert?

Rosa: Das ist spannend zu beobachten: Bis in die siebziger Jahre galt es als verwerflich, nicht sesshaft zu sein. Wer ohne festen Wohnsitz war, wurde als defizitär betrachtet. Er war ein Vagabund. Inzwischen hat sich das geradezu umgekehrt: Wer immer am selben Ort klebt, wird stigmatisiert. Es wird erwartet, dass Menschen bereit sind, für den Job umzuziehen, und dass sie auch mal im Ausland gelebt haben. Gerade die Eliten - Sportler, Künstler, Politiker, Manager - ziehen ständig von einem Ort zum anderen.

SZ: Was sind die Folgen?

Rosa: Die Menschen verlieren ihre Verortung. Wir sind es gewohnt, uns nicht freischwebend zu denken, sondern angesiedelt an einem bestimmten Ort. Das kann zu Identitätsproblemen führen.

SZ:  Wieso?

Rosa: Identität bedeutet neben anderem auch, dass wir unsere Biografie als Wachstumsgeschichte erleben, nach dem Motto: Früher war ich in dieser Sache naiv, heute bin ich erfahrener. Das Problem des ständigen Wechsels ist, dass man immer wieder von vorne anfängt. Ich nenne es die Erfahrung des rasenden Stillstands, also ständige Veränderung ohne wirkliche Entwicklung. Hinzu kommt die Entfremdungserfahrung: Wir anverwandeln uns die Dinge nicht mehr so wie früher. Der Bezug zum Wohnort wird oberflächlich: Wer im Dorf groß wird, verwächst mit den Straßen, den Bäumen, dem Bach. Wenn man zehn Mal umgezogen ist, interessiert nur noch, wo der Bäcker, das Kino und der Supermarkt sind. Es gibt kein persönliches Verhältnis mehr zum Ort - und damit schwindet ein Stück Identität.

SZ: Das klingt traurig. Trotzdem haben sich viele Arbeitsnomaden mit dieser Lebensform ganz gut arrangiert.

Rosa: Es muss nicht immer katastrophal sein, aber man zahlt dafür einen Preis. Man entwickelt zum Beispiel Verhaltensmuster, um alles in der Schwebe zu halten und ewig in einer Art Pubertätsstadium zu verharren. Die Grenze zwischen privaten und beruflichen Kontakten verwischt immer mehr. Die Arbeitskollegen werden zu Bekannten, mit denen man viel unternimmt - bis man wieder in eine andere Stadt zieht. Man hat viele Kontakte, aber sie sind nicht mehr so tiefgründig und kontinuierlich.

SZ: Was hilft, wenn man gezwungen ist, den Wohnort oft zu wechseln?

Rosa: Menschen, die ständig unterwegs sind, müssen sich einen Anker-Ort suchen. Denn jeder braucht so einen Ort, an den er immer wieder zurückkehren und auftanken kann. Ich selber habe zum Beispiel immer noch einen Wohnsitz in dem Schwarzwalddorf, aus dem ich stamme, auch wenn ich nur noch selten dorthin komme. Man kann einen Anker auch im Bewusstsein schaffen, indem man stur an einem Ritual festhält, zum Beispiel jeden Tag Yoga macht. Oder indem man sich symbolisch verankert bei einem bestimmten Menschen, in einer künstlerischen Tätigkeit oder in einer Religion. Wichtig ist, dass man wenigstens eine Dimension stabil hält: den Wohnort, die Tätigkeit oder die Partnerschaft - sonst besteht die Gefahr der totalen Ortlosigkeit.

(SZ vom 16.12.2006)

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