Jorge ist ein Teil des Problems. Er ist ein Teil dieser Zahl, die überall so bedrohlich groß geschrieben steht: 45,8. 45,8 Prozent, so hoch ist die Jugendarbeitslosenquote in Spanien, höher als in jedem anderen Land in Europa.
Keine guten Aussichten: In Spanien ist fast die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos. Deshalb hoffen viele, in Deutschland ihr Glück zu finden.
(Foto: AFP)Pause im Café Colectivo in Berlin-Friedrichshain. Jorge ist mit seiner Flamenco-Gruppe aus dem südspanischen Cádiz angereist, um für seine Landsleute in Berlin zu spielen. Er stellt seinen Cajón, eine Holzkiste mit Schallloch, an die Bar, geht nach draußen, steckt sich eine Zigarette an. Der Musiker hat kein Problem damit, zu den 45,8 Prozent zu gehören: "Es ist in Spanien nicht so schlimm, wie immer alle sagen. Es lässt sich dort wunderbar leben. Und es gibt sehr wohl Arbeit - nur taucht Schwarzarbeit in der Statistik eben nicht auf."
Doch auch wenn Jorge seinen schwarzen Job nicht hätte: Spanien verlassen? Niemals! Der 30-Jährige ist heimatverbunden, wie viele seiner Landsleute.
Trotzdem verlassen immer mehr Spanier ihr Land. In anderthalb Jahren waren es offiziell 132.000, dreimal mehr als vor der Krise. Wie viele davon in Deutschland sind, lasse sich wegen der EU-Freizügigkeitsregelung schwer sagen, sagt Oliver Koppel vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Klar ist nur: Seit Frühjahr ist die Anzahl rasant gestiegen. Seit Angela Merkel in Spanien war.
Berlin-Mitte. Konferenz im Café Zosch. Diego Ruiz del Árbol bespricht mit seinem Team Beiträge für den Blog, den er für seine Landsleute in Deutschland bestückt. Er ist 32 Jahre alt, spricht sehr schnell und lieber Spanisch als Deutsch, selbst wenn es um die Bundeskanzlerin geht. "Angela Merkel hat gesagt, Leute, wir brauchen Fachkräfte, wir brauchen euch. Kommt nach Deutschland!" 100.000 offene Ingenieursstellen gebe es für Spanier im gelobten Land, stand in den Zeitungen geschrieben. Doch auch wenn die Zahl mittlerweile um eine Null nach unten korrigiert worden ist - Merkels Besuch wirkt bis heute nach. "Die Zeitungen waren voller Analysen und Kommentare", sagt Diego.
Es sind zwei Länder, die wie Puzzleteile zusammenpassen: Hier die hohe Arbeitslosigkeit - selbst 19 Prozent der Universitätsabsolventen zwischen 25 und 29 sind arbeitslos. Dort eine brummende Wirtschaft und eine Arbeitslosenquote, die so niedrig ist wie seit Jahren nicht. In vielen Branchen fehlen Fachkräfte, Schätzungen reichen von 500.000 bis 800.000. Besonders Ingenieure werden gesucht, die Anzahl der offenen Stellen hat nach Angaben des Vereins Deutscher Ingenieure im September mit 99.000 einen Höchststand erreicht. Damit kommen auf jeden arbeitslosen Ingenieur mehr als fünf offene Stellen. Aber auch IT-Experten und Architekten fehlen - laut Oliver Koppel vom IW auch eine Folge des Konjunkturpakets II, das die energetische Häusersanierung fördert.
Auf diese ökologische Lücke hofft César Barba. In Spanien sieht der Architekt, der sich auf ökologisches Bauen spezialisieren will, keine Karrierechancen: Grüne Architektur kenne man dort kaum. Aber auch herkömmliche Aufträge bleiben aus. "Vor der Krise leisteten sich die Leute Zweitresidenzen in den Vorstädten, jetzt reicht das Geld bei vielen nicht mal mehr, um die Hypothek für die Einzimmerwohnung abzubezahlen." Nicht einmal mehr öffentliche Aufträge habe sein Arbeitgeber an Land ziehen können. Jetzt ist die Firma bankrott - und César seit einem Monat in Berlin. Jeden Abend büffelt der 32-Jährige in einem Kurs in Neukölln deutsche Grammatik und Vokabeln. Er will zu den zehn Prozent Spaniern gehören, die wenigstens Grundkenntnisse haben. Damit gehört er zu einer Minderheit, sagt César: "Viele denken, toll, in Deutschland gibt's Arbeit. Aber Deutsch lernen? Oh nein, viel zu anstrengend!" Und doch habe er in Spanien keinen Platz mehr in einem Sprachkurs ergattern können. "Die Kurse sind komplett überlaufen."