Soziologe über die Arbeitswelt:"Krankheit erlaubt man sich nicht"

Die Deutschen melden sich seltener krank. Soziologe Bröckling hält das für ein Alarmzeichen, das auf Druck und Verunsicherung hinweist.

W. Bartens

Die Deutschen lassen sich immer seltener krankschreiben - kaum waren die neuen Zahlen bekannt, da begann der Streit über die Hintergründe der Entwicklung. Haben sich die Bedingungen in den Firmen verbessert? Das behaupten die Arbeitgeber. Oder ist es die Angst der Angestellten vor der Wirtschaftskrise, die sie auch krank ins Büro treibt? So sehen es die Gewerkschafter. Beide Erklärungen jedoch sind zu einfach. Ulrich Bröckling ist Professor für Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg. Von ihm ist bei Suhrkamp das Buch "Das unternehmerische Selbst" erschienen. Darin beschreibt er, wie sich der moderne Mensch in allen Lebenslagen eigenverantwortlich, kreativ, flexibel und risikobewusst verhalten soll.

Ulrich Bröckling

Ulrich Bröckling ist Professor für Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg.

(Foto: Foto: oH)

SZ: Sind die Arbeitsbedingungen in Deutschland inzwischen so gut, dass immer weniger Menschen krank werden?

Bröckling: Wenn der Krankenstand sinkt, ist das eher ein Alarmzeichen. Es ist eine paradoxe Situation: Niedrige Krankenstände stehen nicht für mehr Gesundheit, sondern für erhöhten Druck und Verunsicherung am Arbeitsplatz. Über das tatsächliche Befinden sagen die Zahlen wenig aus. Viele Menschen leiden heute unter psychischen Erkrankungen mit depressiven Symptomen. Das Leiden durch körperlich schwere Arbeit ist hingegen seltener geworden.

SZ: Haben die Menschen andere Ansprüche an ihr Leistungsvermögen?

Bröckling: Ist der Arbeitsplatz in Gefahr, sind Menschen bereit, sich mehr zuzumuten. Krankheit gilt als Nicht-Funktionieren. Das erlaubt man sich nicht, erst recht nicht in Krisenzeiten.

SZ: Führen flexiblere und freiere Arbeitsbedingungen dazu, dass Menschen zufriedener und gesünder im Job sind?

Bröckling: Das könnte so sein, wenn Freiheit und Flexibilität nicht gleichzeitig mit entgrenzten Erwartungen verbunden wären. Man wird nie mit etwas fertig und kann die Ansprüche nie ganz erfüllen. Überstunden und der Druck nehmen zu, weil mehr Freiheit und Flexibilität an mehr Wettbewerb gekoppelt sind. Zwang geht heute nicht mehr so sehr von Vorgesetzten aus, sondern von der Notwendigkeit, mitzuhalten. Soll in einer Woche die Präsentation stattfinden, steigt der Druck, auch wenn man selbst entscheiden kann, wie man fertig wird. Das ist die Kehrseite von mehr Freiheit.

SZ: Firmen wie Google richten Freizeitbereiche ein und bieten weitere Annehmlichkeiten. Ist das ein Vorbild?

Bröckling: Ich bezweifele, dass dadurch der Krankenstand sinkt. Mich interessiert nicht der Kicker oder die Wellness-Oase in einem Betrieb, sondern was den Mitarbeitern abverlangt wird.

SZ: Was bedeutet es für den Einzelnen, wenn er spürt, den Anforderungen nie ganz genügen zu können?

Bröckling: Die Arbeitswelt will den smarten Selbstoptimierer - doch der erlebt sich zugleich immer auch als unzulängliches Individuum. Wo Aktivität gefordert ist, ist er antriebslos. Wo Kreativität verlangt wird, fällt ihm nichts mehr ein. Flexibilisierungszwängen begegnet er mit Erstarrung. Statt sich zu vernetzen, zieht er sich zurück. An Entscheidungskraft fehlt es ihm ebenso wie am Mut zum Risiko. Statt notorisch gute Laune zu verbreiten, ist er unendlich traurig.

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