Wenn Jugendämter in die Schlagzeilen geraten, geht es meist um schreckliche Verbrechen an Kindern wie in Staufen, in Lügde und zuletzt in Münster. Manchmal auch um Fehlentscheidungen, in deren Folge ein Kind ohne Not von seiner Familie getrennt wurde. Die Behörde, die so tief in das Leben von Menschen eingreifen kann wie kaum eine andere, steht in beiden Fällen am Pranger. "Das Image der Jugendämter ist schlecht, die Verantwortung, die man trägt, aber größer als in jedem anderen Bereich der Sozialarbeit", sagt die Sozialwissenschaftlerin Kathinka Beckmann von der Hochschule Koblenz. "Im Verhältnis dazu ist die Bezahlung nicht angemessen. Hinzu kommt: Ein großer Teil der Arbeitszeit geht inzwischen dabei drauf, die eigene Tätigkeit zu dokumentieren, um sich rechtlich abzusichern. Das alles macht den Beruf für junge Leute wenig attraktiv."
Kein Wunder also, dass in vielen der 559 deutschen Jugendämter Personalnot herrscht. 2018 erregte Beckmann mit einer Studie zu den miserablen Arbeitsbedingungen bei den "Allgemeinen Sozialen Diensten" der Ämter - den Abteilungen, die Kinder vor Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch schützen sollen -, großes öffentliches Interesse. Die meisten der mehr als 650 befragten Fachkräfte gaben an, 50 bis mehr als hundert Fälle zu betreuen.
Zwar haben Städte und Landkreise in den letzten Jahren deutlich mehr Mitarbeiter in ihren Jugendämtern eingestellt. Doch der Großteil von ihnen kümmert sich um die Vergabe von Kita-Plätzen oder Erziehungsberatung. Die Zahl der Mitarbeiter im Bereich Kinderschutz stieg laut Beckmann seit 2017 nur um etwa tausend auf fast 15 000, das seien immer noch viel zu wenige.
"Anfang 2018 hatten wir extreme Personalnot und kaum Bewerber auf unsere offenen Stellen", sagt Rainer Schwarz, Leiter des Jugendamts im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. In der vertrackten Lage kam er auf die Idee, mit einem dualen Studiengang langfristig mehr Nachwuchs zu gewinnen. Schwarz suchte sich Mitstreiter bei anderen Jugendämtern und der Senatsverwaltung für Jugend und fragte bei mehreren Berliner Hochschulen an. Interesse zeigte die private Hochschule für Angewandte Pädagogik (HSAP), die bereits einen dualen Studiengang in Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Ganztagsschule anbot, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Bezirksämtern. Der neue Bachelorstudiengang Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe ging in Rekordzeit an den Start: Schon im Oktober 2018 begann die Pilotphase mit 15 Studierenden, ein Jahr später der erste reguläre Jahrgang mit 25 Studierenden.
Drei Tage im Jugendamt, zwei Tage Studium vor dem Bildschirm
Eine von ihnen ist Miriam Neitzel, die unmittelbar vor Studienbeginn ihre Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten im Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf abgeschlossen hatte. Dieser Beruf erschien ihr auf die Dauer zu trocken: "Während meiner Ausbildung hatte ich viel mit Sozialarbeitern zu tun und fand deren Arbeit viel interessanter." Neitzel hat sich verpflichtet, nach ihrem Abschluss als staatlich anerkannte Sozialarbeiterin mindestens drei Jahre im Jugendamt ihres Bezirksamts zu bleiben. Während des Studiums bekommt sie etwa tausend Euro Monatsgehalt zuzüglich der Studiengebühren.
Drei Tage pro Woche lernt Miriam Neitzel im Jugendamt, zwei an der HSAP, die wegen der Corona-Krise vorerst auf Online-Lehre umgestellt hat. "Zum Lernen brauche ich Praxisbezug", meint die 24-Jährige. "Aktuell haben wir an der Hochschule das Modul Beratung. Das lerne ich nicht nur in der Theorie, sondern sehe auch, wie meine Anleiterin im Jugendamt Menschen berät - und kann dann sofort die Situation mit ihr reflektieren. Auf diese Weise bleibt sicher mehr hängen als in einem rein theoretischen Studium."
Die Aufgaben im Kinderschutz sind vielfältig: Besuche bei Familien, Vermittlung bei Sorgerechts- und Trennungsstreitigkeiten, Auswahl von Pflegefamilien, Gerichtstermine. Die Situation, dass ein Kind aus seiner Familie genommen werden muss, kommt selten vor - und ist auch für die Sozialarbeiter sehr belastend. Miriam Neitzel hat schon eine "Inobhutnahme" miterlebt. "Das war nicht einfach. Aber es geht ja dabei nicht um meine Gefühle, sondern um die Kinder. In so einem Moment muss man von sich selbst Abstand halten", sagt sie.
Dass die dualen Studierenden genau wissen, was im Beruf auf sie zukommt, ist ein großer Vorteil für sie und ihre Arbeitgeber. Denn gerade bei Jugendämtern ist die Fluktuation hoch, viele Berufsanfänger verabschieden sich schon nach kurzer Zeit wieder. Ein Grund dafür ist Überforderung, weil den erfahrenen Kollegen die Zeit für eine gründliche Einarbeitung der Neuen fehlt. "Früher liefen die Leute mindestens ein halbes Jahr mit, bevor sie eigenständig Fälle übernahmen, das geht nicht mehr", sagt Jugendamtsleiter Rainer Schwarz.
Die Berliner Jugendämter verzeichnen neuerdings viele Bewerber
Die Sozialwissenschaftlerin Kathinka Beckmann hat in ihrer Studie auch unter-sucht, wie verbreitet dieses Problem ist. Bei einem Drittel aller deutschen Jugendämter gibt es danach überhaupt kein Einarbeitungsmodell, bei den meisten übrigen ist die Einarbeitungszeit kürzer als drei Monate. "Die meisten Berufsanfängerinnen und -anfänger im Bereich Kinderschutz werden also nicht gut genug auf eine Tätigkeit vorbereitet, in der sie sehr schicksalhafte Entscheidungen treffen müssen", kritisiert Beckmann.
Die Vorzüge des dualen Studiums haben einige Jugendämter in Baden-Württemberg sehr früh erkannt: Schon in den Siebzigerjahren bildeten sie gemeinsam mit der damaligen Berufsakademie - seit 2009 Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) - Nachwuchskräfte aus. Die DHBW-Standorte Stuttgart, Heidenheim und Villingen-Schwenningen bieten heute mehrere Studiengänge in Sozialer Arbeit an, in der Studienrichtung Soziale Dienste in der Jugend-, Familien- und Sozialhilfe sind insgesamt fast 500 Studierende eingeschrieben. Das Studium ist als Blockmodell organisiert, die Studierenden wechseln alle drei Monate zwischen Praxispartner und Hochschule. Neben Jugendämtern gehören soziale Einrichtungen zu den Kooperationspartnern.
In anderen Bundesländern sind duale Studiengänge in Zusammenarbeit mit Behörden hingegen noch relativ neu - wenn man von der Ausbildung von Beamtenanwärtern im gehobenen Dienst absieht. Denn Polizisten, Verwaltungsexperten, Finanz- oder Zollbeamte werden seit Jahrzehnten dual an den Polizei- beziehungsweise Verwaltungshochschulen von Bund und Ländern ausgebildet. Interesse an der Kooperation mit anderen Hochschulen, um Informatiker, Ingenieure oder eben Sozialarbeiter für verschiedene Bereiche auszubilden, entwickeln die öffentlichen Verwaltungen erst seit ein paar Jahren angesichts des immer größeren Personalmangels. So erinnert sich die Leiterin des Studiengangs Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe an der HAW Landshut, Mechthild Wolff, wie sie vor etwa zehn Jahren vergeblich versuchte, ein duales Studienangebot auf die Beine zu stellen - sie fand schlicht keine Praxispartner. "Damals hat kein Jugendamt und keine soziale Einrichtung darin einen Vorteil für sich gesehen."
Erst 2015 führte die SRH Hochschule Hamm gemeinsam mit fünf Jugendämtern sowie freien Trägern einen dualen Studiengang in Sozialer Arbeit ein, bis heute wuchs die Zahl der beteiligten Jugendämter auf 25. Im Jahr 2018 gab es dann so etwas wie einen Boom: Gleichzeitig mit der Pilotphase an der HSAP Berlin starteten in Nordrhein-Westfalen und Thüringen drei ähnliche duale Studiengänge mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe. Während die Hochschule Gera-Eisenach das Studium im Blockmodell organisiert, haben die Studierenden an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach und an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf (FFH) in jeder Woche sowohl Theorie- als auch Praxistage.
Alle diese Studiengänge arbeiten mit Jugendämtern und freien Trägern zusammen, führen in sieben bis acht Semestern zum Bachelor-Abschluss mit staatlicher Anerkennung - und wachsen schnell. "Als ich 2016 mit dem Aufbau unseres Studiengangs angefangen habe, waren die Jugendämter noch zögerlich", erzählt Ute Belz, Professorin an der FFH. "Dann wollten auf einmal alle mitmachen und möglichst schnell." Auch das Interesse der Bewerber sei groß, in beiden bisherigen Jahrgängen wurde die ursprünglich geplante Studierendenzahl um die Hälfte aufgestockt.
Die Berliner Jugendämter können sich vor dem Ansturm von Interessierten kaum retten, Schwarz erhielt für die zwei Plätze in seinem Amt zuletzt fast 270 Bewerbungen. Für die nächsten Jahre, in denen viele Mitarbeiter in den Ruhestand gehen werden, fühlt er sich nun besser gewappnet.