Süddeutsche Zeitung

Sonderschulen:Ausgeschlossen und abgeschoben

In Sonderschulen sitzen körperlich und geistig Behinderte, Vernachlässigte und Arme. Die UN will mit einer Konvention gegen diese Aus- grenzung kämpfen.

B. Taffertshofer

Nach der vierten Klasse endete für Jannes die Integration. Die Behörden schickten den Jungen mit Down-Syndrom auf die Sonderschule. Jeden Morgen fährt der Zwölfjährige nun eine halbe Stunde im Bus nach Euskirchen in Nordrhein-Westfalen, seine Freunde muss er zurücklassen in seiner Heimatstadt Brühl. Keine der weiterführenden Schulen bietet dort integrativen Unterricht, deshalb blieb seiner Mutter keine andere Wahl.

Valerie Schulz wollte nie, dass ihr Sohn isoliert, in einem Schonraum für behinderte Kinder unterrichtet wird. "Er muss doch lernen, sich trotz seiner Behinderung im wahren Leben durchzusetzen", sagt sie. In Sonderschulen würden die Kinder in Watte gepackt. Neulich hätten die neuen Lehrer ihres Sohnes gesagt, sie wollten ihm jetzt beibringen, sich selbständig anzuziehen. Die Mutter war überrascht: Jannes zieht sich zu Hause seit Jahren alleine an. Dass der Junge die vorauseilende Hilfe seiner Betreuerin trotzdem recht bequem fand, hat der Schule eingeleuchtet.

So wie Jannes ergeht es vielen behinderten Kindern in Deutschland. In der Grundschule dürfen sie immer öfter gemeinsam mit Gesunden lernen, aber nach dem hoffnungsvollen Start landen sie am Ende doch auf der Förderschule, wie die Sonderschule neuerdings genannt wird.

Arme, Vernachlässigte, Aggressive, Migranten

Bundesweit besucht fast jeder zwanzigste Schüler eine Sonderschule. Hier sitzen die körperlich und geistig Behinderten, aber auch die Armen, die Vernachlässigten, die Aggressiven und die Migranten. In manchen Bundesländern gibt es zehn verschiedene Arten von Förderschulen. Während manche Förderschüler froh sind, in kleinen Klassen mit Fachkräften und spezieller Technik lernen zu können, fühlen sich andere von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Nahezu 80 Prozent der Sonderschüler schaffen den Hauptschulabschluss nicht. Und das liegt nicht an unfähigen Lehrern, wie Studien zeigen. Oft fehlen den Schülern einfach die Anregungen für bessere Leistungen, weil in den Klassen der Sonderschulen Vorbilder fehlen.

Eine Schulform übrigens, die es in vielen anderen Ländern gar nicht gibt. Im EU-Durchschnitt lernen mehr als 70 Prozent der Kinder mit Behinderung an einer ganz normalen Schule. In Deutschland sind es dagegen gerade mal 15 Prozent. Der große Rest wird an eine Sonderschule verwiesen - auch gegen den Willen der Eltern. Doch das könnte für die Behörden jetzt schwieriger werden.

Missstände öffentlich anprangern

Zum Jahreswechsel hat der Bundestag eine Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Dieses Übereinkommen verlangt in Artikel 24 ein "inklusives Bildungssystem" (inclusive education system). Behindertenorganisationen und viele Experten legen dies so aus, dass Eltern sich auf die UN-Konvention berufen können, um gegen die Zuweisung ihres Kindes auf eine Sonderschule zu klagen. Außerdem wird es in Genf erstmalig einen Rechtsausschuss geben, der die Umsetzung der Konvention überwacht. Jeder kann dieses Gremium anrufen. Es kann zwar kein Urteil sprechen, aber Missstände öffentlich anprangern.

Betroffene, Fachpolitiker und Behindertenverbände hoffen nun auf eine Wende in der Schulpolitik. Sie wünschen sich, dass jene behinderte Kinder, die einen Platz in einer Regelschule haben wollen, auch Anspruch darauf haben. Erste zaghafte Zeichen für ein Umdenken in der Politik gibt es bereits. Die Konferenz der zuständigen Kultusminister der Länder hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die die neue Rechtslage umsetzen soll. Erstmals dürfen dabei auch die Behindertenorganisationen mitreden. Diese neue Offenheit beschreibt Sibylle Hausmanns als "geradezu revolutionär". Sie ist Projektleiterin im Verein "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen", in dem sich Eltern organisiert haben.

Auf der nächsten Seite: Warum nichtbehinderte Schüler oft am meisten vom gemeinsamen Lernen profitieren.

Keine Garantien

Die Kultusminister wollen sich allerdings drei Jahre Zeit geben, um die Inhalte der UN-Konvention umzusetzen. Und noch ist ungewiss, wie ernst es ihnen damit wirklich ist. Momentan streiten sich Politiker darüber, wie das englische Wort "inclusion" überhaupt zu verstehen ist. Während die Grünen in Niedersachsen bereits die Abschaffung der Förderschulen fordern und die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung großen Handlungsbedarf anmahnt, winken vor allem konservative Landesregierungen ab: Das differenzierte Förderangebot in Baden-Württemberg werde "auch in Zukunft der Garant dafür sein", dass für jedes Kind ein entsprechendes Schulangebot bereit stehe, lässt Kultusminister Helmut Rau (CDU) wissen. Im Klartext: Abgesehen von ein paar Nachbesserungen, kann alles so bleiben, wie es ist.

In Deutschland hängt es vor allem vom Wohnort ab, ob ein behindertes Kind zusammen mit Gesunden lernen darf. Während in Schleswig-Holstein mittlerweile schon fast jeder zweite Schüler mit "sonderpädagogischen Förderbedarf" in einer normalen Schule lernt, ist es in Bayern nicht einmal jedes fünfte Kind. Zwar sehen die meisten Schulgesetze der Länder vor, dass der gemeinsame Unterricht Vorrang haben sollte - aber garantieren will niemand dafür.

Einen Platz erhält ein behindertes Kind nur, wenn die nötigen Voraussetzungen erfüllt sind: Klassen mit freien Kapazitäten, zusätzliche Räume, Integrationshelfer. Immerhin verschickte Bayerns Ministerium vor kurzem erstmals ein Informationspaket an Grund- und Hauptschulen, wie sie Integrationshelfer beantragen können.

Jeglicher Perspektive beraubt

Bei der Suche nach einer Schule für ihr Kind fühlen sich Eltern wie Valerie Schulz oft allein gelassen. Sie klagen über Bürokratie und viel Unkenntnis. Allein in Hessen wurde in diesem Schuljahr 213 Kindern ein Platz an einer normalen Schule verwehrt. Für die Eltern kommt das einem Urteil gleich, das ihren Kindern jegliche Perspektive auf gesellschaftliche Teilhabe raubt. Denn gehen sie einmal in die Förderschule, bleibt ihnen der Weg zurück meist versperrt.

Natürlich finden sich mittlerweile auch etliche beherzte Schulleiter, die schwierige Schüler nicht loswerden, sondern besser integrieren wollen: zum Beispiel Wilfried Eberts aus Bad Harzburg in Niedersachsen. Er hat gewagt, wovor viele Kollegen zurückschrecken. Als vor zweieinhalb Jahren vier Eltern in seinem Büro standen und ihn anflehten, er möge ihre geistig behinderten Kinder am Werner-von-Siemens-Gymnasium aufnehmen, fasste er sich ein Herz. Er ging mit dem Vorschlag in die Schulkonferenz, führte kontroverse Diskussionen, redete gegen Ängste an und holte eine Berliner Professorin an die Schule, die die Lehrer auf ihre neue Aufgabe vorbereitete. Heute gehen die vier Jugendlichen in die siebte Klasse und alle Sorgen und Widerstände sind verschwunden.

"Am meisten profitiert haben die nichtbehinderten Schüler", sagt Eberts. Er erzählt die Geschichte einer zurückhaltenden Schülerin, die regelrecht aufblühte, als sie der kleinen Amelie, die das Down-Syndrom hat, beim Lesenlernen helfen durfte. In keiner Klasse seien Solidarität, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft so ausgeprägt, wie in der 7a.

20 Stunden in der Woche kommen in Bad Harzburg Integrationshelfer in die Klasse, manchmal ziehen sie sich mit ihren vier Schülern auch in einen Nebenraum zurück. Aber Sport, Musik, Religion und Biologie werden immer gemeinsam unterrichtet. Das Gymnasium würde heute gerne mehr behinderte Kinder aufnehmen, Anfragen gäbe es genug, sagt Eberts, aber die Platznot in seiner Schule spreche derzeit dagegen.

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SZ vom 26.1.2009/bön
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