Sittenwidrige Löhne:Schuften für 1,32 Euro die Stunde

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Lohn-Dumping auf Kosten der Steuerzahler: Das Jobcenter Stralsund verklagt Arbeitgeber, die Mitarbeiter zu schlecht bezahlen. Das könnte Schule machen.

Thomas Öchsner

Der Stundenlohn hätte vielleicht gerade für ein Tiefkühlpizza aus dem Discounter gereicht: Ende Januar verurteilte das Arbeitsgericht Stralsund einen ehemaligen Besitzer einer Pizzeria wegen Zahlung von sittenwidrigen Löhnen. Der Mann musste dem Jobcenter Stralsund etwa 6600 Euro erstatten - er hatte einer Kellnerin, zwei Küchenhelfern und zwei Pizzaboten Stundenlöhne von minimal 1,32 Euro gezahlt. Die 6600 Euro billigte das Gericht der Behörde zu, weil sie den Beschäftigten wegen der zu niedrigen Löhne ergänzende Hartz-IV-Leistungen überweisen musste.

Hundert Arbeitgeber vor Gericht

Der Pizzeria-Chef war bundesweit vermutlich der erste, gegen den eines der 345 Jobcenter in Deutschland wegen solcher Dumping-Löhne Klage einreichte. Bald könnten viele hundert Arbeitgeber vor Gericht stehen, weil sie ihre Mitarbeiter womöglich sittenwidrig bezahlen.

Ein Rechtsgeschäft ist nichtig, wenn es gegen die guten Sitten und "gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" verstößt. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Was das für die Höhe von Löhnen bedeutet, hat das Bundesarbeitsgericht festgelegt. Danach ist eine Bezahlung sittenwidrig, wenn sie nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlten Tariflohns erreicht.

Missbrauch des Sozialstaats

Ob dies auf einem Arbeitnehmer zutrifft, lässt sich im Einzelfall relativ gut nachprüfen. Trotzdem sind die Jobcenter bislang nicht dadurch aufgefallen, dass sie vehement gegen Arbeitgeber vorgehen, die den Sozialstaat offensichtlich missbrauchen: Dabei handelt es sich um Unternehmen, die solche sittenwidrige Löhne zahlen und mehr oder wenig offen ihren Mitarbeitern erklären, sie könnten das, was ihnen zum Lebensunterhalt fehlt, vom Staat aufstocken lassen und zusätzlich Hartz IV (Arbeitslosengeld II) beziehen. Wie viele Betriebe das sind, ist unklar. Bekannt ist nur die Zahl der sogenannten "Aufstocker", die einen Vollzeitjob haben und zusätzlich Hartz IV bekommen. Diese liegt bei fast 400.000, von denen wohl eine Minderheit sittenwidrige Löhne erhalten dürfte.

Verbreiteter Lohnwucher

Der Leiter des Jobcenters in Stralsund, Peter Hüfken, hat sich damit nicht zufriedengegeben. Seine Behörde hat bereits in 17 Fällen vor dem Arbeitsgericht Klage eingereicht - mit Erfolg. Nach seinen Angaben hat das von ihm geführte Jobcenter seit Herbst 2008 knapp 132.000 Euro an Lohnnachforderungen geltend gemacht, um zu viel bezahlte staatliche Aufstockungsleistungen zurückzubekommen. Etwa die Hälfte der Summe hat Stralsund bereits kassiert. "Und wir haben noch Material für 50 bis 100 weitere Fälle", sagt Hüfken.

Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat inzwischen reagiert: Die BA ist zwar nicht dafür zuständig, sittenwidrige Arbeitsverhältnisse zu ermitteln. Die Bundesagentur hat aber Ende Januar einen Leitfaden Lohnwucher mit einer Musterklage herausgegeben. Darin werden die Jobcenter aufgefordert, vor allem Fälle von Aufstockern zu prüfen, deren Stundenlohn unter drei Euro liegt.

Sittenwidriger Tarif

Für diesen Orientierungswert hat sich die BA entschieden, weil es in Deutschland auch Tariflöhne von drei bis fünf Euro gibt. Als Beispiel nannte die Bundesagentur das Friseurhandwerk in Mecklenburg-Vorpommern oder den Garten-Landschaftsbau in Sachsen-Anhalt. "Steuerzahler sollten nicht dann einspringen, wenn Arbeitgeber bewusst sittenwidrige Löhne zahlen, die nicht die Existenz sichern können", sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt. Die Drei-Euro-Grenze schließt nach Angaben der Behörde nicht aus, dass auch Löhne oberhalb dieser Marke sittenwidrig sein können. "Dort, wo wir Lohnwucher vermuten, gehen wir auch dagegen vor", kündigte Alt an.

Der neue Leitfaden könnte dazu beitragen, dass das Beispiel Stralsund Schule macht. Fälle, die sich die Jobcenter näher anschauen könnten, gibt es genug: Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdienen in Westdeutschland etwa 30 Prozent aller Aufstocker Löhne von unter fünf Euro je Stunde. Im Osten sind es sogar 40 Prozent.

© SZ vom 04.03.2010/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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