Sexualerziehung in den USA:Ein Becher voller Syphilis

Kondome sind wie Roulette, Tränen übertragen Aids: So will die Sexualerziehung in den USA Teenager zur Abstinenz erziehen. Trotzdem werden viele Mädchen schwanger. Prominentes Beispiel: Bristol Palin.

Julia Bönisch

Wie gefährlich der Austausch von Körperflüssigkeiten sein kann, sollen amerikanische Lehrer nach Ansicht ihrer Regierung mit einem kleinen Spiel beweisen: Mädchen und Jungen einer Klasse stellen sich einander gegenüber, ein Pärchen steht ein wenig abseits. Jeder Schüler hält einen Pappbecher mit Wasser in der Hand, außen ist ein Stück schwarzes Klebeband angeheftet.

Familie Palin, afp

Die 17-jährige Bristol Palin mit ihrem Freund Levi und ihrer Mutter: Ihre Schwangerschaft sorgt für eine Diskussion über amerikanische Sexualerziehung.

(Foto: Foto: afp)

Der Lehrer fordert die Schüler auf, einen Schluck aus ihrem Becher zu nehmen, damit zu gurgeln und das Wasser dann zurückzuspucken. Anschließend gießen alle Kinder von ihrem Becher ein wenig in den Becher jedes ihrer Klassenkameraden - nur das Pärchen, das abseits steht, bekommt nichts ab. Ihr Wasser ist rein, in den Bechern aller anderen schwimmt nun eine Brühe mit der Spucke aller.

Nun sollen die Schüler die schwarzen Klebebänder von ihren Bechern ziehen: "Syphilis", "Chlamydien", "HI-Virus", "Feigwarzen" steht darunter. Nur das abseits stehende Pärchen - die Enthaltsamen - bekommen eine gute Nachricht: "Glück gehabt, keine Krankheit". "Dadurch, dass ihr euer Wasser oder euren Körper mit so vielen teilt, geht ihr all diese Risiken ein." Mit diesen Worten sollte der Pädagoge den Unterricht abschließen. So sieht es der Lehrplan des Erziehungsprogramms "Creating Positive Relationships" vor, den zwei Sexualwissenschaftlerinnen im Auftrag des staatlichen Sexuality Information and Education Council analysierten.

Eine Milliarde Dollar für die moralische Erziehung

Abschreckung statt Aufklärung: In den USA zählen solche Unterrichtsmethoden zum Alltag in der Sexualerziehung. "Abstinence only", absolute Enthaltsamkeit, dazu sollen die Schulen anhalten. Wie der eigene Körper funktioniert, wie er sich in der Pubertät verändert, wie Jugendliche sicheren Geschlechtsverkehr haben können - all das lernen die meisten amerikanischen Teenager nicht im Unterricht.

Die Abstinenz-Kampagne beruht auf einem Bundesgesetz von 1996 und wird von der amerikanischen Regierung kräftig finanziert: In den vergangenen zehn Jahren hat sie sich die moralische Erziehung ihrer Jugend über eine Milliarde Dollar kosten lassen. Bundesstaaten, die Schülern ein anderes Bild von Sexualität vermitteln möchten, bekommen keinen Cent. Im Jahr 2007 lehnten nur sieben der 50 Bundesstaaten die Fördermittel ab und gestalten die Lehrpläne nach eigenen Vorstellungen.

Zahlreiche Teenagerschwangerschaften

Alaska, Heimatstaat der republikanischen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, gehörte nicht dazu. Die Gouverneurin ist eine vehemente Befürworterin der Abstinence-only-Strategie, Sexualkunde und Aufklärung in der Schule lehnt sie strikt ab. In den Blickpunkt rückte diese Haltung, als die Kandidatin offenbarte, dass ihre erst 17-jährige Tochter Bristol im fünften Monat schwanger sei - und das Kind behalten werde. Energische Abtreibungsgegner sind die Palins natürlich auch.

Bristols Schwangerschaft offenbart das Problem, das mit dem Versuch der Erziehung zur Keuschheit einhergeht: Die USA sind trotz - oder wegen - ihrer Prüderie die westliche Industrienation mit den meisten Teenagerschwangerschaften. Im Jahr 2006 kamen hier laut offizieller Statistik auf 1000 Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren 41,9 Geburten, mehr als 80 Prozent dieser Schwangerschaften waren ungeplant. In Deutschland waren es nur 10,7 Geburten, in Kanada 13,4.

Auf der nächsten Seite: Oralsex, Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaften: Amerikanische Jugendliche haben zwar Sex, aber keine Ahnung, wie er eigentlich funktioniert - weil US-Lehrbücher abstruse Falschinformationen verbreiten.

Ein Becher voller Syphilis

Oralsex vor dem 18. Geburtstag

Abstinenz-Kampagne, ap

"Jungfrau - bringen Sie Ihren Kindern bei, dass das kein schmutziges Wort ist": Abstinenz-Kampagne in Baltimore.

(Foto: Foto: AP)

Auch andere Zahlen deuten darauf hin, dass die Abstinenz-Kampagne wirkungslos ist: Laut einer Studie des National Center for Health Statistics haben 70 Prozent der US-Teenager vor ihrem 18. Geburtstag Oralsex, über 45 Prozent haben bis dahin mindestens einmal Geschlechtsverkehr. Und fast die Hälfte aller Neuinfektionen mit Geschlechtskrankheiten pro Jahr tritt bei Jugendlichen auf.

Diese Daten legen den Schluss nahe, dass "abstinence only" völlig an der Realität vorbeigeht. Amerikanische Jugendliche haben also Sex - aber offenbar keine Ahnung, wie er eigentlich funktioniert.

Kondome und russisches Roulette

Das könnte auch daran liegen, dass die Lehrbücher der Abstinenz-Kampagne den Jugendlichen nicht nur wichtige Fakten vorenthalten, sondern auch Falschinformationen verbreiten. Eine Analyse von 13 in Highschools angewendeten Abstinenz-Programmen im Auftrag des Kongresses, der sogenannte Waxman-Report, ergab Haarsträubendes: In den Programmen mit Titeln wie "Wait Training" ("Wie man das Warten lernt") oder "Managing Pressure before Marriage ("Mit Druck vor der Hochzeit umgehen") wird der Einsatz von Kondomen mit russischem Roulette verglichen. Einige Autoren behaupten, Kondome schützten nicht vor Geschlechtskrankheiten und nur unzureichend vor Schwangerschaften, HIV werde durch Tränen und Schweiß übertragen und schon das bloße Berühren von Genitalien könne zur Schwangerschaft führen.

Auch die in den Büchern propagierten Rollenmodelle sind nicht ganz auf dem neuesten Stand: Mal heißt es, Männer seien aggressiv, ihnen fehle die Fähigkeit zu tiefen Emotionen. Ein anderes Buch lehrt, dass Frauen "finanzielle Unterstützung" benötigten, dagegen bräuchten Männer "Bewunderung". "Frauen messen ihr Glück und ihren Erfolg an ihren Beziehungen. Glück und Erfolg der Männer dagegen hängen von ihren Leistungen ab", heißt es da. Und: "Während ein Mann nur wenig oder kein Vorspiel zum Geschlechtsverkehr braucht, benötigt eine Frau häufig Stunden emotionaler und mentaler Vorbereitung."

Einige US-Politiker sehen angesichts solcher Sätze christliche Fundamentalisten am Werk. "Das Abstinence-only-Programm der Bush-Regierung ist ein Beispiel für die verfehlte Gesundheitspolitik. Sie basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Ideologie", erklärte der Gesundheitsbeauftragte des Staates New York, Richard F. Daines, als er entschied, die staatlichen Fördermittel abzulehnen.

"Angesichts dieser völlig absurden Sexualerziehung fehlt den Teenagern das nötige Rüstzeug", sagt Sebastian Kempf. Der Sozialpädagoge, der im sexualpädagogischen Team von Pro Familia München arbeitet, kennt die amerikanische Sexualerziehung aus eigener Anschauung: Er hat einige Monate bei der Organisation "Planned Parenthood", die in den USA ähnliche Aufgaben wir Pro Familia in Deutschland übernimmt, gearbeitet.

Auf der nächsten Seite: Wie sich Teenagerschwangerschaften auf die Zukunft junger Mütter auswirken - und was Bristol Palins Freund von der Schwangerschaft hält.

Ein Becher voller Syphilis

Positive Wertebildung

"Die dortige Sexualkunde arbeitet nicht mit Aufklärung, sondern mit Angstmache. Dabei wissen wir, dass die Zahl der Teenagerschwangerschaften und Infektionen sinken, je umfassender und offener der Unterricht ist", erklärt er. Für ihn ist es bezeichnend, dass nun ausgerechnet die Tochter der vermeintlichen Vorzeigefamilie Palin ein Kind erwartet. "Eigentlich läuft das allem zuwider, wofür die Kandidatin steht. Doch der Makel wird wieder wettgemacht, weil das junge Paar bald heiratet. Die Ehe legitimiert das Verhältnis, und schon ist alles wieder gut. Das ist scheinheilig."

Auch der Sexualwissenschaftler und Sexualpädagoge Frank Herrath hält die amerikanische Sexualpädagogik für alles andere als zeitgemäß. "Der Glaube, dass Sexualkunde aufstachelt zu sexueller Überaktivität, ist falsch", sagt er. Die Auseinandersetzung mit dem Thema trage im Gegenteil zu einer positiven Wertebildung bei. "Und aus unserer Erfahrung wissen wir, dass Jugendliche Sexualkunde in der Schule positiv aufnehmen. Aufklärung allein durch Bravo-Lesen ist ihnen nicht genug."

Sozialleistungen statt College-Abschluss

Glaubt man der Statistik der Initiative "National Campaign to Prevent Teen Pregnancy" (Nationale Kampagne zur Vermeidung von Teenager-Schwangerschaften), ist Bristol Palin, ihrem 17-jährigen Freund Levi Johnston und ihrem ungeborenen Kind keine goldene Zukunft beschieden: Weniger als zwei Prozent aller jungen Frauen, die minderjährig Mütter werden, können mit 30 einen College-Abschluss vorweisen. Bei Frauen, die erst mit 21 Jahren schwanger werden, sind es immerhin neun Prozent. Zwei Drittel aller Familien, die aufgrund einer Teenagerschwangerschaft gegründet wurden, fallen unter die Armutsgrenze und sind auf Sozialleistungen angewiesen. Nach zehn Jahren sind außerdem 48 Prozent dieser Ehen schon wieder geschieden, die Kinder bleiben mit höherer Wahrscheinlichkeit in der Schule sitzen, landen häufiger in Gefängnissen und bekommen selbst viel zu jung Kinder.

Das MySpace-Profil des Kindsvaters Levi, das die Wahlkampfstrategen nach Bekanntwerden der Schwangerschaft kräftig überarbeiteten, offenbarte deutlich, dass sich der 17-Jährige eigentlich anderes im Leben erhoffte, als sich so früh zu binden. Dort war nicht nur der Satz "Ich will nicht heiraten" zu lesen, sondern auch: "Ich will keine Kinder."

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