Schulreformen:"Ich wundere mich, wie wenig zukünftige Lehrer wissen"

Pisa, Iglu, Timss: Deutschlands Schüler müssen sich regelmäßig testen lassen. Testentwickler Olaf Köller über notwendige Schulreformen, Lehrer -Weiterbildung und den Überdruss an Studien.

Tanjev Schultz, Birgit Taffertshofer

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wird in den kommenden Jahren testen, was Deutschlands Schüler können. Es soll überprüfen, wie gut die neuen "nationalen Bildungsstandards" eingehalten werden. Tests allein helfen aber noch nicht weiter, mahnt IQB-Direktor Olaf Köller.

Schule, dpa

Unterricht am Gymnasium: Olaf Köller fordert mehr Fördermaßnahmen.

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SZ: Es laufen die Vorbereitungen für einen großen Bildungsgipfel. Im Herbst will Bundeskanzlerin Merkel die Kultusminister der Länder treffen. Was erhoffen Sie sich von dem Gipfel?

Olaf Köller: Ich erhoffe mir weitere Impulse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Ich würde mir einen Fahrplan wünschen, der hilft, den Unterricht in den Schulen weiter zu verbessern und noch mehr individuelle Förderung zu ermöglichen. Wir benötigen zusätzliche Anstrengungen, die den 20 Prozent der Kinder, die in Pisa zur sogenannten Risikogruppe gehören, weil sie zu schlecht lesen und rechnen, Perspektiven geben. Sonst haben sie später kaum Chancen, erfolgreich in die Ausbildung überzugehen.

SZ: Die Kultusminister beteuern, es werde schon sehr viel getan.

Köller: Stimme zu! Aber wir stehen hier erst am Anfang. Ich sehe noch erheblichen Bedarf, die Förderung für die schwächsten Schüler weiter zu verbessern - idealerweise flächendeckend.

SZ: Was wäre zu tun?

Köller: Mit Hilfe von Vergleichsarbeiten lassen sich leicht Schulen mit besonders benachteiligten Kindern und Jugendlichen identifizieren. Das sind oft Schulen in sozialen Brennpunkten. Dort müssten sich Fördermaßnahmen stärker auf Deutsch, Mathematik und die sozialen Kompetenzen konzentrieren.

SZ: Das könnte aber bedeuten, dass die Schüler kaum noch etwas über Physik oder Musik erfahren. Oder dass sie kein Englisch lernen.

Köller: Denkbar. Die elementaren Kulturtechniken haben meiner Ansicht nach Vorrang. Will man die Leistungen der Schwächsten verbessern, muss man Quantität und Qualität in den zentralen Fächern erheblich steigern. Mit nur vier Stunden Deutschunterricht in der Woche ist es bei besonders benachteiligten Schülerinnen und Schülern nicht getan.

SZ: Steht der Föderalismus entschlossenem Handeln im Weg?

Köller: Der Föderalismus hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass alle Länder Spielräume haben, etwas auszuprobieren. Was sich bewährt, wird oft von anderen übernommen. Ein Nachteil ist, dass die kleinen und ärmeren Länder Gefahr laufen, in diesem Wettbewerb abgehängt zu werden.

SZ: Bundesarbeitsminister Olaf Scholz will ein Recht auf einen Hauptschulabschluss einführen. Die Bundesagentur für Arbeit soll Schulabbrecher fördern, die den Abschluss nachholen. Was halten Sie davon?

Köller: Das kann hilfreich sein. Man muss allerdings sicherstellen, dass diese Zertifikate auch etwas wert sind. In Deutschland gibt es eine starke Bindung von Ausbildungschancen an Abschlüsse. Wer kein Abschlusszeugnis hat, wird es schwer haben. Aber wir wissen auch, dass viele Betriebe nicht allein Zeugnissen und Abschlüssen trauen. Die Zahl der Schulabbrecher muss sinken, doch kein Problem wäre gelöst, wenn man ihnen Abschlüsse verschafft und sie dennoch für die berufliche Ausbildung nicht vorbereitet sind.

SZ: In regelmäßigen Abständen erscheinen niederschmetternde Diagnosen zum Bildungssystem. Das führt zu Verdruss, die Ungeduld wächst. Wie viel Zeit ist nötig, um die Zahl der ganz schwachen Schüler zu reduzieren?

Köller: Die Ungeduld könnte zum Problem werden. Die große Bewährungsprobe steht noch aus! Von 2010 an werden auf Basis der Bildungsstandards fast im Jahresrhythmus Bundesländervergleiche zu verschiedenen Fächern und Jahrgangsstufen erscheinen. Setzen sich da die schlechten Nachrichten fort, muss sich zeigen, welche Konsequenzen das hat. Wir Forscher rechnen mit Zeiträumen von zehn bis 15 Jahren, bis der Erfolg von Reformen sichtbar wird. Wenn man bei den Schwächsten das Training zentraler Kulturtechniken hochdosiert verbessert, kann es auch schneller gehen. Ich sehe aber auch die Gefahr, dass wir in 20 Jahren hier sitzen und mit den erreichten Ergebnissen unzufrieden sind.

SZ: Sie klingen ernüchtert. Dabei haben Sie mal gesagt, es sei revolutionär, dass sich die Kultusminister auf bundesweite Bildungsstandards verständigt haben. Fürchten Sie, das IQB und die Standards haben nur eine Alibifunktion?

Köller: Die Sorge hört man manchenorts. Das IQB kostet im Vergleich zu großen Unterrichtsreformen relativ wenig Geld und bringt schnell Ergebnisse in der Qualitätssicherung. Eine flächendeckende Verbesserung des Unterrichts ist dagegen teuer und mühsamer. Es wird sich zeigen, ob Vergleichsarbeiten und Beispiele für gute Aufgaben zur Verbesserung des Unterrichts führen. Möglicherweise ist es wichtiger, in die Schulen zu gehen, sie zu coachen und Lehrkräfte zu motivieren, mit den Standards im täglichen Unterricht zu arbeiten.

SZ: Die Aufgaben und Tests, die Ihr Institut entwickelt, sollen dazu beitragen, einen interessanteren und effektiveren Unterricht zu machen. Viele Lehrer sind aber genervt von der ganzen Testerei.

Köller: Das stimmt teilweise, vielerorts steigt auch die Akzeptanz der Tests. Es wäre aber bedauernswert, wenn es im Unterricht nur noch darum ginge, die Schüler auf Tests vorzubereiten. Ein guter Unterricht hat das gar nicht nötig.

SZ: Vom Testen allein werden die Schüler ja auch nicht schlauer.

Köller: Das beste Beispiel dafür sind die USA. Dort gibt es seit Jahrzehnten Testprogramme. Die Amerikaner testen, testen, testen. Aber hat sich dort etwas verbessert? Die Qualität des Unterrichts ist dort teilweise nach wie vor beunruhigend, das zeigen Videostudien. Tests sind sehr wichtig, um den Leistungsstand der Kinder und Jugendlichen festzustellen. Resultieren daraus keine Konsequenzen, so bleiben Verbesserungen häufig aus.

SZ: Gehen andere Länder denn besser mit Testergebnissen um?

Köller: England und die Niederlande sind interessante Beispiele. Dort können Tests und Evaluationen erhebliche Konsequenzen haben, das geht im Extremfall, wenn Unterstützungsangebote ausgeschlagen werden, bis zum Austausch des Schulleiters und, wenn auch dann keine Entwicklungsmaßnahmen ergriffen werden, bis zur Schulschließung.

SZ: Davon ist man in Deutschland weit entfernt.

Köller: Bei uns gibt es keine Sanktionen für Schulen, welche die gewünschten Ergebnisse nicht erzielen, leider aber auch zu selten systematische Hilfen für Schulen in schwierigen Lagen. In den Niederlanden haben die Schulen vollständige Autonomie. Aber zur Kontrolle und Unterstützung gibt es Evaluationen, eine Schulinspektion und Hilfsangebote. Eine starke, unabhängige Schulinspektion steht in Deutschland in den Anfängen. Ich könnte mir langfristig vorstellen, dass man Schulinspektoren und Experten für die Fortbildung unabhängig institutionalisiert, ohne Anbindung an die Schulaufsicht.

SZ: Wie müsste die Lehrerfortbildung konkret aussehen?

"Ich wundere mich, wie wenig zukünftige Lehrer wissen"

Köller: Wir benötigen in den Schulen etablierte Fachkonferenzen, in denen sich die Kollegen regelmäßig treffen, um an der Entwicklung des Unterrichts zu arbeiten. Dazu sollte ein Coaching durch externe Berater kommen, die gemeinsam mit den Kollegen Szenarien erfolgreichen Kooperierens und Unterrichtens entwickeln und ausprobieren. Gegenseitige Besuche im Unterricht, auch Videoaufnahmen können helfen, Schwachstellen zu erkennen und zu beseitigen.

SZ: Viele Lehrer lassen sich nur ungern über die Schulter schauen.

Köller: Ja, Lehrerfortbilder werden nicht immer mit offenen Armen empfangen. Es ist viel Überzeugungsarbeit nötig. Lehrer können aber viel von kooperativen Arbeitsformen profitieren. Wenn sie nicht jede Klassenarbeit alleine ausarbeiten, wenn sie Material austauschen, entlastet das alle. Übrigens fällt es nicht nur Lehrern schwer, sich auf Teamarbeit und auf Evaluationen einzulassen. Auch wir Professoren haben damit so unsere Schwierigkeiten.

SZ: In den vergangenen Wochen ist wenig über die Qualität des Unterrichts, dafür umso mehr über das G 8 und über ein bundesweites Zentralabitur diskutiert worden. . .

Köller: . . . was zum Teil an zentralen Problemen unseres Schulsystems vorbeigeht! Beim G 8, dessen Bewährung in vielen Ländern noch aussteht, ist vieles eine Frage der Organisation und des Zeitmanagements. Es wird - auch im G 8 - manchenorts nach wie vor Zeit verschwendet, durch Stundenausfall, nicht optimale Zeitnutzung im Unterricht, bewegliche Ferientage, ungünstigen Umgang mit Zeit bei Abschlussprüfungen. Es spricht nichts dagegen, wenn die Zeit in Schulen flexibler genutzt wird, ältere Schüler beispielsweise auch in den Ferien an Projekten arbeiten. Und was ein bundesweites Zentralabitur angeht, denke ich, dass es nicht schaden, aber in Hinblick auf erfolgreiche Lernprozesse auch nicht automatisch etwas bringen wird.

SZ: Wäre es nicht gerechter?

Köller: Das setzt voraus, dass auch die Qualität des Unterrichts für die Abiturienten überall gleich ist.

SZ: Wenn die Fortbildung der Lehrer so wichtig sein soll: Wie kommt es, dass das Konzept der Bildungsstandards vielen Pädagogen nicht vertraut ist? Ist es überhaupt schon im Studium verankert?

Köller: Das hängt von der Hochschule ab. Hier an der Humboldt-Universität lehren die jüngeren Hochschullehrer die Inhalte der Standards. Außerdem ist die Fachdidaktik an den Universitäten noch immer wenig praxisorientiert. Ich sitze oft in Prüfungen und wundere mich, mit wie wenig Handlungswissen zukünftige Lehrer in die Schulen gehen.

SZ: Werden die Kultusminister eines Tages Ihr Institut beauftragen, einen Test zu entwickeln, der das Wissen und die Fähigkeiten von Lehrern und Lehramtskandidaten überprüft?

Köller: Aus wissenschaftlichem Interesse arbeiten Kollegen bereits mit solchen Tests. Das könnte ein wichtiger Forschungsbereich werden, und man wird möglicherweise von den Befunden überrascht werden, wenn sich zeigt, dass Teilgruppen von Lehrkräften Defizite im Fach oder im fachdidaktischen Wissen haben. Solche Arbeiten würde ich aber nicht am IQB, sondern eher an anderen Forschungseinrichtungen verorten.

SZ: Bildungsforschung ist oft heikel, aus Studien lassen sich selten eindeutige Schlüsse ziehen. Immer wieder gibt es Kämpfe um die Deutungshoheit.

Köller: Politiker und Bildungsforscher sammeln immer noch Erfahrungen im Umgang miteinander und im Umgang mit Unschärfen in der Interpretation. In anderen Disziplinen sind wir ständig mit Unschärfen konfrontiert. Die Prognosen der Wirtschaftsweisen beispielsweise ändern sich oft, und keiner stört sich daran. In der Bildungsforschung fehlt noch die Gelassenheit, mit solchen Unsicherheiten in den Daten und in deren Interpretation umzugehen.

SZ: Wenn es um die Zukunft der Kinder geht, fällt Gelassenheit schwer.

Köller: Das verstehe ich. Ich rege mich als Vater zweier schulpflichtiger Kinder aber leichter auf, wenn ich sehe, wie als Folge der Immobilienkrise Milliardenbeträge in insolvente Landesbanken gehen, aber wenig Geld für Bildung vorhanden ist. Es hakt nicht nur am Geld, das habe ich deutlich gemacht, aber eine systematische, idealerweise flächendeckende Professionalisierung der Lehrkräfte und mehr Einzelförderung für die schwächsten Schüler sind nicht kostenneutral. Würden wir nur einen Bruchteil der Mittel, die in der Bankenkrise versickern, in die Weiterbildung investieren, könnten viele Eltern ruhiger schlafen.

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