Süddeutsche Zeitung

Schulreformen:Das Verschwinden der Hauptschule

Angetrieben von der FDP baut nun auch die Union das gegliederte Bildungssystem um - und weicht von ihrer starren Haltung zur Schulstruktur ab.

Tanjev Schultz

Auf Kritik am gegliederten Schulsystem reagiert die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer zunehmend gereizt. "Wir stehen zu unseren Hauptschulen!", ließ die CDU-Politikerin vor kurzem wissen. Das trotzige Ausrufezeichen könnte man auch als ein Zeichen der Schwäche deuten. Und als eine Reminiszenz an Zeiten, in denen die Debatte über Schulreformen ideologisch überfrachtet und verfahren war.

Die Zeiten ändern sich. Vielerorts hat die Hauptschule schon aus demographischen Gründen keine Zukunft mehr. So befördert nicht nur das sinkende Ansehen der Hauptschule, sondern auch der Rückgang der Schülerzahlen einen neuen Pragmatismus. Das rot-rot regierte Berlin will nun die Haupt- und Realschulen ebenso fusionieren wie das schwarz-grün regierte Hamburg.

Auch Rheinland-Pfalz baut sein Schulsystem um: Im Dezember beschloss die SPD-Mehrheit im Landtag das Konzept einer "Realschule plus". Es bedeutet das Ende der Hauptschule, allerdings nicht ein Ende des Hauptschulabschlusses. Ihn wird es wie in den anderen Ländern weiterhin geben, da nicht alle Schüler die mittlere Reife oder das Abitur schaffen.

Während die Gymnasien bundesweit immer mehr Zulauf haben, ist die Zahl der Hauptschüler seit Beginn des Jahrzehnts um mehr als 20 Prozent zurückgegangen. Mit den geburtenschwachen Jahrgängen wird sich dieser Trend in den kommenden Jahren verstärken, was auch die hartnäckigsten Verteidiger der Hauptschule in der Union nicht ignorieren können. Nordrhein-Westfalen erlaubt deshalb sogenannte Verbundschulen, wenn dies hilft, ein wohnortnahes Schulangebot zu sichern.

Eine Bastion wankt

In Verbundschulen schließen sich Hauptschulen mit Real- oder Gesamtschulen zusammen. Kurz vor Weihnachten genehmigte das Ministerium in Düsseldorf fünf solcher Schulen. Insgesamt wird es im neuen Schuljahr mindestens 13 dieser Modelle in Nordrhein-Westfalen geben, weitere Anträge werden erwartet. In einer Verbundschule gibt es eine einheitliche Leitung und ein gemeinsames Kollegium, der Wechsel eines Schülers in eine höherer Schulform ist hier besonders leicht möglich.

Der Unterricht müsse aber, wie Ministerin Sommer betont, in den Klassen 7 bis 10 in einen Haupt- und einen Realschulzweig aufgeteilt werden. "Die Identität der jeweiligen Schulform bleibt erhalten", sagt Sommer, die offenbar den Eindruck vermeiden will, das gegliederte System werde aufgeweicht. Bei vielen Stellungnahmen zur Schulstruktur muss man den Wunsch der Politiker in Rechnung stellen, das Gesicht zu wahren. De facto sind die Verbundschulen in Nordrhein-Westfalen für die CDU ein beachtlicher Schritt hin zu einer flexibleren, durchlässigen Struktur der Schulen.

Die FDP übernimmt dabei immer mehr die Rolle eines Antreibers. In Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern fordern die Liberalen eine Fusion der Haupt- und Realschulen und setzten damit ihren Koalitionspartner unter Druck. Selbst Bayern, die stärkste Bastion des dreigliedrigen Schulsystems, plant nun einen Modellversuch. In jedem Regierungsbezirk soll es eine Schule geben, in der die Kooperation zwischen Haupt- und Realschule erprobt wird.

Die Opposition hält dieses Zugeständnis der CSU an die FDP zwar für läppisch; der bayerische Elternverband spricht von einer "bis auf die Knochen abgemagerten Variante" und verweist darauf, dass sich bereits mehr als 40 Schulen für das Modell interessieren würden. Aber für die CSU könnte es durchaus der Anfang vom Ende ihrer starren Haltung zur Schulstruktur sein. In Bayern besucht derzeit noch etwa jeder dritte Jugendliche eine Hauptschule, viele könnten problemlos mit dem Leistungsniveau an Realschulen mithalten. Doch trotz vergleichsweise guter Leistungen gibt es auch in Bayern etliche Hauptschulen, in denen die Probleme überhand nehmen und die Schüler wenig Aussichten auf beruflichen Erfolg haben.

Mittlere Reife für alle

"Die Hauptschule muss sich wandeln", sagt Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau (CDU). Und er meint damit nicht nur eine verstärkte Praxisorientierung und Zusammenarbeit der Schulen mit Betrieben. Rau möchte, dass Jugendliche künftig in jeder Schulart die mittlere Reife erwerben können; die Hauptschulen im Südwesten sollen dann unter dem Namen "Werkrealschule" firmieren.

Grüne und SPD-Politiker sehen darin einen Etikettenschwindel, doch letztlich könnte es sich auch hier um einen ersten Schritt handeln, dem weitere folgen werden. So reformiert Baden-Württemberg bereits die Lehramtsstudiengänge: Das Studium soll in Zukunft nicht mehr aufgeteilt werden in ein eigenes Lehramt für die Haupt- und eines für die Realschule. Die Weichen für eine Fusion der Schulen sind damit gestellt.

In Sachsen, dem Pisa-Sieger, lernen Haupt- und Realschüler seit jeher unter einem Dach, in den unteren Jahrgängen auch gemeinsam in einer Klasse; daneben gibt es das Gymnasium als eigene Schulform. Viele Bildungsforscher sehen in diesem zweigliedrigen System ein mögliches Modell für ganz Deutschland.

"Leistungsschwache ziehen sich gegenseitig herunter", kritisiert der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann das Abschieben schwacher Schüler in Hauptschulen. Bei einem Umbau des Schulsystems sei entscheidend, Schüler mit schlechten Lernvoraussetzungen besser zu fördern, ohne die guten Schüler zu vernachlässigen, sagt Hurrelmann.

Kritiker des zweigliedrigen Modells, die sich eine "Schule für alle" wünschen, beklagen, dass das Gymnasium unangetastet bleibe und sich Akademiker mit ihren Kindern weiterhin abschotten könnten. Sie verweisen außerdem auf die Sonderschulen, die oft übersehen würden. In vielen anderen Staaten ist eine Integration behinderter Kinder in Regelschulen längst üblich. In diese Richtung weist auch eine UN-Konvention zu den Rechten Behinderter, die Deutschland im Dezember ratifiziert hat.

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Quelle:
SZ vom 30.12.2008
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