Schulen für Sinti und Roma:Die Welt außerhalb des Clans

Viele Sinti und Roma haben nie richtig Lesen und Schreiben gelernt, denn bis heute gehen ihre Kinder nicht regelmäßig zur Schule. Ein Kieler Projekt will das ändern.

J. Schneider

Es könnte ein Augenblick der Verlegenheit sein. Aber Marcellinas Lächeln lässt das nicht zu. Die Zehnjährige mit den langen schwarzen Haaren hat sich vor die Wandzeitung der Kinder von Maro Temm aufgebaut. Stolz zeigt sie auf ihren Namen. Daneben kleben handgemalte Sterne. "Das bin ich", sagt Marcellina. Sie hat die Sterne bekommen, weil sie in der Schule war und auch die Hausaufgaben gemacht hat.

Schulen für Sinti und Roma: "Die Eltern müssen manchmal mehr lernen als die Kinder": Christiane Weiss war erst skeptisch, jetzt arbeitet sie mit als Hausaufgaben-Hilfe.

"Die Eltern müssen manchmal mehr lernen als die Kinder": Christiane Weiss war erst skeptisch, jetzt arbeitet sie mit als Hausaufgaben-Hilfe.

(Foto: Foto: Maro Temm)

Vermutlich hätte sie das andere Zeichen gerne vergessen, das auch da klebt. Es ist ein Blitz. "Das ist, weil ich nicht in der Schule war." Aber, schiebt sie hinterher: "Das ist meine Mutter, die hat Schuld." Die hat sie nicht zur Schule gebracht, weil kein Benzin mehr im Tank war. Alle lachen, die Mütter, die Pädagogin Olga Andersch und auch Matthäus Weiss. So hat sich der Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein die Sache vorgestellt. "Hier wird endlich geändert, was Jahre lang nicht angepackt wurde."

Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft

Weiss ist einer der Väter des Projekts Maro Temm. Das Wort aus der Sprache der Sinti steht für "Unser Land" oder "Unser Platz". Hier im Kieler Stadtteil Gaarden steht es für ein europaweit einzigartiges Projekt. Es soll Sinti ermöglichen, ihre Kultur zu bewahren und zugleich ihren Kindern Chancen in der deutschen Gesellschaft eröffnen.

Auf dem Weg in die kleine Siedlung erinnert Matthäus Weiss an die lange Ausgrenzung, in der die Mehrheitsgesellschaft, wie er das deutsche Umfeld nennt, kein Interesse daran hatte, dass ein Sinto oder eine Sintezza zur Schule ging. Sie galten als fahrende Leute, Zigeuner, die keine Schule brauchten und wollten. Als ein Volk, in dem die Großeltern alles weitergeben würden. Die Kenntnisse in einem Handwerk, ihre Musik und ihre Sprache, die nicht aus Büchern gelehrt wird, sondern in den Familien. "Es ist nicht wahr", sagt Weiss, "dass wir unsere Kinder und Enkel nicht anhalten, zur Schule zu gehen." Aber er weiß auch, dass die Sache komplizierter ist.

Ein Leben mit staatlichen Transferleistungen

Tatsächlich haben viele Sinti nie richtig Lesen und Schreiben gelernt. Und bis heute gehen Kinder nicht regelmäßig zur Schule. Sie verlieren oft schon nach den ersten Schulwochen den Anschluss. In Maro Temm gibt es Zehnjährige, die zum dritten Mal die erste Klasse wiederholen.

"Den älteren Generationen fehlt oft eine Berufsausbildung oder ein Schulabschluss" sagt Renate Schnack, die mit Weiss das Projekt Maro Temm ins Leben rief. Schnack war lange Minderheitenbeauftragte in Schleswig-Holstein und kennt das Leben der Sinti gut. Viele Erwachsene hätten sich auf ein Leben mit staatlichen Transferleistungen eingerichtet, sagt Schnack. Sie seien liebende Eltern und Großeltern, aber sie könnten den Kindern oft nicht vorleben, welche Möglichkeiten die Welt außerhalb des Clans bietet. "ine Sinti-Mama kann das nicht, ihr Kind anderen überlassen" sagt Christiane Weiss, eine der Mütter in Maro Temm. "ine Sinti-Mama will ihre Kinder immer bei sich haben. Sie will sie beschützen."Sie erzählt von Kämpfen, die sie mit sich und ihren Kindern ausfechten muss, um sie zur Schule zu schicken, "ie sollen mal selber ihre Miete bezahlen und einen guten Beruf haben."

Auf der nächsten Seite: Durch die vielen Jahre der Verfolgung und Ausgrenzung hegen Ältere Vorbehalte gegen Maro Temm. Sie warnen, die Sinti würden sich aufgeben und anpassen an die deutsche Gesellschaft.

"Da ist jetzt wieder ein Zigeunerlager."

Eine Stadt mit Vorbehalten

Die Siedlung Maro Temm liegt weit außerhalb des Kieler Stadtzentrums. Von einer Schnellstraße führt der Weg in ein Industriegebiet, vorbei an einem Recyclinghof, einer Autowaschanlage, an Lagerhallen. Dann erst tauchen 13 weiße Häuser auf. Dahinter kommt nur noch ein Bahndamm. "Ist doch immer so gewesen" sagt Ewald Weiss, der in einem der Häuser lebt: "Für unsere Leute ist immer der Platz am Gleis geblieben." Aber der junge Mann ist zufrieden mit der Lösung, denn dies ist ihre Siedlung. In einem Genossenschaftsmodell haben sie Maro Temm aufgebaut, unterstützt von öffentlichen Darlehen, Spendern und einem Förderkreis. Es war nicht leicht. In der Stadt gab es Vorbehalte, aber nun leben hier die Generationen zusammen, vom Enkel bis zu den Urgroßeltern.

Obwohl jede Familie ihr Haus hat, leben sie doch zusammen. Draußen in der Tür von Ewald Weiss steckt der Schlüssel. So machen es alle. "Bei uns kommt jeder rein. Das ist unsere Art." Fast jeden Tag sind sie zusammen, und es kommen nicht nur Nachbarn, sondern "oft auch unsere Leute aus Kiel oder Lübeck".

Treffen von Clans, Musik, viel Lärm

Auch dieser Lebensstil war es, der den Sinti das Leben anderswo schwergemacht hat. In Wohnsiedlungen haben sich Nachbarn beschwert über Treffen von Clans, über Musik, viel Lärm. "Es ist für viele eine Erlösung", sagt der Chef des Landesverbands. "Jahrzehnte haben sie aufs eigene Leben verzichten müssen, um den Nachbarn nicht zu verärgern."

Gerade hält vor der Zufahrt ein Auto mit zwei Männern, sie steigen nicht aus, sondern blicken nur herum. Nach wenigen Minuten sind sie wieder weg. "Ach, Leute kommen oft und gucken", sagt Ewald Weiss. "Die sagen: Da ist jetzt wieder ein Zigeunerlager." Was die Neugierigen sehen, wirkt langweilig. Reihenhausvorgärten, davor Autos, Bobby-Cars, Plastikbagger. Auch die Wohnung von Ewald Weiss würde kaum überraschen. Da ist eine Sofa-Garnitur, ein Tisch und ein Fernseher, neben dem eine akustische und eine E-Gitarre stehen.

Kampf gegen Klischees

Wenn die Sinti zu einem Fest laden, dann ist der Platz voll von Fremden, die Musik lieben und mitfeiern. "Dies ist kein Ghetto", sagt der Chef des Landesverbands, "wir sind immer offen." Aber der ältere Herr, dessen Mutter im Dritten Reich im Lager war, glaubt nicht, dass alle Vorurteile verschwunden sind. "Man erwartet, dass wir liederlich, dreckig und verwahrlost sind", sagt er.

Bis heute wissen viele Besucher nicht, das merkt Weiss an Fragen, dass Tausende Sinti in Deutschland leben. In der Nachkriegszeit hat es lange gedauert, bis überhaupt wahrgenommen wurde, dass Sinti im Dritten Reich verfolgt wurden. Weiss möchte aufklären, aber seine Stimme klingt auch ärgerlich, weil er ständig gegen Klischees ankämpfen muss. "Wir sind keine umherstreunenden Zigeuner", sagt er.

Verfolgung und Ausgrenzung

Rund 60.000 Sinti gibt es in Deutschland, etwa 5000 in Schleswig-Holstein. Die meisten leben mit ihren Familien seit Jahrzehnten am selben Ort. Es gibt einige Sippen, für die das Herumreisen ein Lebensprinzip ist. "Aber wir waren immer sesshaft"', sagt Weiss. "Dieses Herumziehen, dazu hat man unsere Leute gezwungen. Wir leben seit 600 Jahren hier." Durch die vielen Jahre der Verfolgung und Ausgrenzung hatten manche Ältere Vorbehalte gegen Maro Temm. Sie warnten, die Sinti würden sich aufgeben und am Ende stehe die Anpassung an die deutsche Gesellschaft. Hier soll ja auch versucht werden, den Kindern die Chance auf ein Leben in zwei Welten zu eröffnen.

Ja, ihr Vater sei auch skeptisch gewesen, sagt Christiane Weiss. Nun aber sitzt sie im Gemeinschaftsraum neben der Pädagogin Olga Andersch und hilft Kindern bei den Hausaufgaben. Die Schule soll für die Kinder werden, was sie für die Eltern nicht war: Normalität. Sie sollen die eigene Sprache nicht verlieren, aber früh genug auf den Unterricht in Deutsch und das Lernen in fremder Umgebung vorbereitet werden.

Auf der nächsten Seite: Warum die Eltern oft mehr lernen müssen als die Kinder.

Bauchweh vor jedem Schulbesuch

Überzeugung gegen Herz

Alles sieht leicht aus. Doch dann erzählt Christiane Weiss, wie ihre älteste Tochter vor jedem Schulbesuch über Bauchweh klagte. Anfangs habe ihre Überzeugung häufig gegen ihr Herz verloren. Das Kind durfte zu Hause bleiben, bis am Ende das Schuljahr verpasst war und die erste Klasse wiederholt werden musste. Die Mutter weiß, auch anderen fällt es schwer, ihr Kind gehen zu lassen, nicht nur einer Sintezza. Aber dann sagt sie, dass eine Mutter ihr Kind um sich haben will. "Ob die Kinder fünf oder sechzehn Jahre alt sind, da haben wir immer Angst."

Sie selbst hat einst eine Ausbildung abgebrochen. "Jetzt will ich, dass meine Kinder ihr Geld später selbst verdienen. Das ist doch so wichtig." Ihr Kampf wurde eine grundsätzliche Sache. "Es war schwierig für meine Tochter zu sehen: Die Mama schickt mich doch zur Schule. Es hilft nicht, über Bauchschmerzen zu klagen." Jetzt geht sie täglich. "Auch wenn es mir im Herzen weh tut." Aber, fügt sie an: "Die Eltern müssen manchmal viel mehr lernen als die Kinder."

Druck von außen

Die Pädagogin Olga Andersch, die das Schulprojekt von Maro Temm seit seinem Start vor einem halben Jahr betreut, weiß, dass Druck von außen nicht hilft. "Durch Strafe kämen wir nicht weiter." Stattdessen sollen Schule und Kindergarten Orte werden, die keine fremde Welt mehr sind. In der Matthias-Claudius-Schule, die viele Sinti-Kinder besuchen, gibt es dafür Mediatorinnen. Vier Frauen aus der Gemeinde der Sinti, sie bieten Hilfe an und halten Kontakt zu den Eltern. Dieses Angebot gibt es schon seit einigen Jahren, und die Schüler erscheinen nun zumindest regelmäßiger.

In Maro Temm soll Olga Andersch Eltern und Kinder noch besser erreichen. "Ich gehe nicht zu den Familien und hole sie." Das würde nach Zwang aussehen. Die junge Lehrerin hat abgewartet, bis die Kinder neugierig wurden. Nun wird sie nachmittags erwartet. Sie konnte auch Christiane Weiss für das Projekt gewinnen, obwohl die anfangs zögerte. Heute ist die Sinti-Frau voller Enthusiasmus, und dieser soll andere Eltern anstecken, von denen einige ihre Kinder selten schicken, andere gar nicht.

Viele Blitze

Und es gibt ja "die soziale Kontrolle", erzählt die Pädagogin Andersch. Die Wandzeitung ist nur eine Spielerei, und doch: "Jeder kann sehen, ob sein Kind einen Stern oder einen Blitz bekommen hat." Es sieht vor den Alten, die bei den Sinti viel Respekt genießen, nicht gut aus, wenn der Enkel viele Blitze hat. Die Initiatoren des Projekts verschweigen dann auch nicht die Geschichten anderer Kinder aus Maro Temm, die gelegentlich kurz und fröhlich bei Olga Andersch und Christiane Weiss auftauchen, aber trotzdem nur selten zur Schule gehen. "Es ist", sagt Renate Schnack, "wirklich ein Projekt mit offenem Ausgang. Wir können den Erfolg nicht versprechen."

Und selbst die Engagiertesten sind nicht immer perfekt. Christiane Weiss erzählt lächelnd, dass sie vor kurzem mal verschlafen hat. "Jetzt schaffen wir es nicht mehr in die Schule", schimpfte ihre Tochter. "Du bekommst einen Blitz." Das hat ihr gefallen.

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