Süddeutsche Zeitung

Schule:Alleine multikulti

Der mühsame Weg zur Integration: Lehrpläne und Lehrerbildung bieten zu wenig Rezepte, wie die Eingliederung der Migrantenkinder verbessert werden kann.

Uwe Ritzer

Wenn Blicke töten könnten, läge im Rektorenzimmer der Grundschule Sperberstraße jetzt eine Leiche. Mit finsterer Miene läuft ein Mann im dunkelblauen Ballonseide-Trainingsanzug eiligen Schritts und grußlos nach draußen. Zurück bleibt Rektor Jürgen Schubert, der das Treffen doch unbeschadet überstanden hat und nun sagt, Gespräche wie mit diesem Vater führe er beinahe jeden Tag.

Der Sohn des Mannes aus Ex-Jugoslawien war beim Einschulungstest aufgefallen, weil er - obwohl in Nürnberg geboren - kaum deutsch spricht. Die Tester rieten den Eltern dringend, den Jungen in einen Kindergarten zu schicken und dafür zu sorgen, dass er dort ordentlich deutsch lernt. Nun hat Schubert erfahren, dass sich seither nichts getan hat. Der Vater sagt, er habe keinen Kindergartenplatz gefunden. Schubert sagt: "Die Familie hat sich nicht gekümmert und wollte sich das Geld sparen." Also hat er einen Kindergartenplatz für den Buben organisiert, was dem Vater nicht passt.

Die Suche nach einem Kindergartenplatz gehört nicht zu den dienstlichen Pflichten eines bayerischen Schulleiters, aber darauf kommt es auch nicht mehr an. Denn längst sind Lehrer, vornehmlich an Grund-, noch stärker an Hauptschulen, keine reinen Wissensvermittler und Persönlichkeitsbilder mehr.

Im Umgang mit ihrem Nachwuchs gleichgültige oder überforderte Eltern und ein gesellschaftlicher Wandel haben aus Lehrern unfreiwillige Sozialarbeiter und Elternersatz, Sprachtrainer und Therapeuten, Seelenklempner und Integrationshelfer gemacht. Zu allem Überfluss prallen sie täglich auf die unterschiedlichsten Kulturen, mit denen umzugehen sie niemand vorbereitet hat.

Konsequentes Wegschauen

"Die offiziellen Statistiken verfälschen die reale Situation", sagt Rektor Schubert, ein Pädagoge mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Offiziell sind 45 Prozent der etwa 800 Schüler an der Grund- und Hauptschule Sperberstraße in Nürnberg Ausländer. Das heißt, sie haben keinen deutschen Pass. Tatsächlich kommen fast 80 Prozent aus "Familien mit Migrationshintergrund", wie Fachleute sagen. Dahinter verbergen sich beispielsweise eingebürgerte Türken oder Russlanddeutsche. Obwohl letztgenannte Zahl in Sachen Migration aussagekräftiger ist, verfügt das Landesamt für Statistik über keine entsprechenden Daten und das Kultusministerium lässt diese erst seit diesem Schuljahr sammeln.

Dies ist womöglich ein Indiz dafür, dass Staat und Gesellschaft die komplizierte Wirklichkeit in Sachen Integration an Schulen lange nicht wahrhaben wollten. Denn ob ein Einwanderer hierzulande tatsächlich angekommen ist, lässt sich nicht am Dokument mit dem Bundesadler festmachen. Auch die Geburt hierzulande ist kein Kriterium.

In vielen Migrantenfamilien wird trotzdem in der Herkunftssprache gesprochen. Wozu auch deutsch lernen? Wer bei seinen alten Landsleuten einkauft, sich die Haare schneiden, bänkerisch und anwaltlich beraten oder ärztlich behandeln lässt, wer dem Iman in der "alten" Sprache predigen hört und wer seine Freizeit unter Landsleuten verbringt, dem reichen im Alltag ein paar Brocken Deutsch.

Für die Kinder ist das ein riesiges Problem. Denn die Sprache ist die Schlüsselqualifikation für ihre Zukunft. "Wie sollen wir Lerninhalte vermitteln, wenn die Kinder nur die Hälfte verstehen", sagt der Sperber-Hauptschulrektor Thomas Reichert. Die Folgen: Das Lerntempo sinkt und damit auch das Lernniveau. Am Ende klagen Firmen, dass Schulabgänger gravierende Defizite beim Lesen, Schreiben und Rechnen aufweisen. In einer Berufswelt, in der die Anforderungen stetig steigen, ist das für die jungen Leute fatal.

Früher war alles einfacher. Da lag das von Grün umgebene, stimmungsvolle und fast 90 Jahre alte Schulhaus an der Sperberstraße mitten im industriellen Zentrum Süddeutschlands. Wer die Sperberschule verließ, fand gleich um die Ecke eine Lehrstelle in einer der großen Fabriken wie MAN oder AEG. Doch dann zog ein Unternehmen nach dem anderen ins billigere Ausland um oder sperrte ganz zu. Die Nürnberger Südstadt wurde zur Problemgebiet. Die Rektoren Schubert und Reichert können das heute an zwei Zahlen ablesen: 40 Prozent ihrer Schülereltern müssen kein Büchergeld bezahlen, weil sie von Hartz IV oder Sozialhilfe leben. Und 90 von 100 Neuntklässlern haben wenige Wochen vor ihrem Abschluss noch keine Lehrstelle.

Dabei braucht die Wirtschaft diese Jugendlichen dringend. Unlängst erst hat eine OECD-Studie die Deutschen auf einen krassen Widerspruch in ihrem Land hingewiesen: Weil selbst geburtenschwach und überalternd, ist man auf Einwanderer angewiesen, will man den Wohlstand bewahren. Andererseits verkümmern die Talente ausländischer Kinder, weil diese zu wenig gefördert werden und nur unterproportional wenige von ihnen es auf weiterführende Schulen oder gar Hochschulen schaffen. Weil ihre Eltern versagen, und auch das Schulsystem. Denn obwohl Experten seit langem auf das Dilemma hinweisen, hat die Politik lange gebraucht, bis sie sich der Tatsache stellte, dass viele Schulen längst multikulti sind. Nur zögernd fing man an, Deutschunterricht für Migranten schon im Kindergarten anzubieten, individuelle Förderpläne in Grundschulen einzuführen. Inzwischen wird sogar das Lehrpersonal hie und da aufgestockt und Minister Siegfried Schneider sieht neuerdings auch in Ganztagesschulen ein probates Mittel zur Integration.

Rektor Reichert mag sich nicht allein auf die Politik verlassen und plädiert pragmatisch für Eigeninitiative: "Als kleiner Schulleiter kann ich die große Politik nicht ändern. Jammern und den Kopf in den Sand stecken nützt aber auch nichts.'' Er und seine Kollegen von der Sperberschule haben der Schule ein maßgeschneidertes pädagogisches Konzept gegeben, in dem unter anderem deutsche und Migrantenkinder gemeinsam musizieren, Sport treiben oder künstlerisch arbeiten. Das schaffe Selbstvertrauen und fördere Teamfähigkeit, Disziplin, Durchhaltevermögen, Kreativität und Konzentration, sagt Reichert

Integrationsforscher Klaus Bade ist das alles nicht genug. "Die interkulturelle Dimension muss nicht nur ein Kernelement an den Schulen werden, sondern auch bei der Aus- und Fortbildung der Lehrer", fordert der Professor aus Osnabrück. Die Pädagogen bräuchten konkrete und vor allem praxisnahe Handreichungen, wie mit unterschiedlichen Kulturen im Unterricht umgegangen werden kann, um letztlich versteckte Potenziale bei Migrantenkindern zu wecken. "Es ist viel billiger, hier frühzeitig zu investieren, als später teure soziale Reparaturkosten zu bezahlen", sagt Bade.

Vor allem aber brauche es Vorbilder: Verstärkt müssten als Lehrer oder in anderen Funktionen Migranten eingesetzt werden, die es ihrerseits geschafft haben. Ein türkischstämmiger Lehrer etwa könne anhand der eigenen Lebensgeschichte seinen Landsleuten glaubwürdig vermitteln, dass es sich lohnt, sich in Deutschland zu integrieren. Bade: "Wenn so ein Multiplikator einem Vater ins Gewissen redet, erreicht er mehr, als jeder noch so engagierte deutsche Rektor."

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Quelle:
SZ vom 29.6.2007
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