Schüler ohne Papiere:Illegal im Klassenzimmer

Die Angst, entdeckt zu werden, macht jeden Schultag zur Nervenprobe. Bundesweit gibt es bis zu 30.000 schulpflichtige Migrantenkinder ohne Papiere.

Roland Preuß

Scheinbar banale Momente ließen Mary J. die Angst in die Knochen fahren: Wenn mal ein Polizeiauto im Schulhof stand, fürchtete sie, die Beamten könnten sie aus dem Unterricht holen, sogar bei einem Klassenausflug zu einer Krankenkasse wurde ihr mulmig: Die AOK verteilte Fragebögen an die Kinder, in denen sie über ihre Versicherung Auskunft geben sollten. "Ich bin ja gar nicht versichert, deshalb bin ich lieber in die Parallelklasse zum Unterricht gegangen", sagt die 13-Jährige.

Illegal Schüler

Die Angst im Klassenzimmer: Bis zu 30.000 Kinder und Jugendliche ohne Papiere besuchen deutsche Schulen.

(Foto: Foto: dpa)

Nur nicht entdeckt werden

Ständig habe sie aufpassen müssen, sich nicht zu verletzen oder "nichts Falsches zu machen", denn die Entdeckung hätte ihr Leben und das ihrer Familie aus der Bahn geworfen: Das Mädchen und ihre philippinische Mutter lebten bis zum vergangenen Dezember ohne Papiere in Berlin, obwohl Mary in Deutschland geboren wurde. Ihnen hätte die Abschiebung gedroht.

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat nun erstmals plausibel hochgerechnet, wie viele schulpflichtige Kinder und Jugendliche ohne Papiere es im Land gibt. Mit Hilfe einer Erhebung des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts kommen die Sachverständigen auf 20.000 bis 25.000 Fälle; maximal seien es 30.000, sagt Winfried Kneip, Bildungsexperte der Stiftung Mercator, welche die Untersuchung federführend erstellt hat. Die Ergebnisse, die der SZ vorliegen, sollen an diesem Donnerstag auf einer Tagung in Berlin vorgestellt werden.

Menschenrecht Bildung

Nach Einschätzung der Experten bleibt ein großer Teil dieser Schulpflichtigen aus Angst vor Enttarnung dem Unterricht fern. Damit aber werde ihnen das Menschenrecht auf Bildung vorenthalten. "Was können im Land aufgewachsene und hier verwurzelte Kinder dafür, dass ihre Eltern einst irregulär zugewandert sind?", fragt der Vorsitzende des Sachverständigenrates, der Osnabrücker Professor Klaus Bade. Hinzu kommt, dass offenbar viele illegale Zuwanderer letztlich in Deutschland bleiben - so wie Mary, die als sogenannter Härtefall nun endlich eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hat. Ohne Schulbildung ist es um die Integration dieser Jugendlichen jedoch schlecht bestellt.

Diese Probleme haben auch einzelne Bundesländer erkannt. Sie entbanden Lehrer und Schulleiter von ihrer Pflicht, Schüler ohne Papiere an die Ausländerbehörde zu melden. Nordrhein-Westfalen verbot in einem Erlass, von ausländischen Schülern Pässe oder Meldebescheinigungen zu verlangen, in Hamburg erklärte die Schulsenatorin öffentlich, dass Kinder ohne Papiere nicht gemeldet werden müssten.

Die Meldepflicht muss weg

Doch das Bundesgesetz können die Länder nicht ändern - und dort ist die Meldepflicht klar vorgeschrieben. "Diese unkoordinierten Versuche alleine bringen nichts, es muss endlich auf Bundesebene etwas geschehen", sagt Kneip. Die schwarz-gelbe Koalition hat zwar angekündigt, illegale Schüler zum Unterricht zuzulassen. Geschehen sei bisher aber nichts, sagt Kneip.

Die Stiftung Mercator fordert deshalb, diese Meldepflicht zu streichen und andere Entdeckungsrisiken zu minimieren - etwa durch Schülerregister, die mit den Meldebehörden abgeglichen werden. Mary hat es trotz ihrer Angst bis zur 6. Klasse geschafft. Kommendes Jahr wolle sie sogar auf Gymnasium wechseln, sagt sie selbstbewusst - ganz legal.

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