Lehrer wären aber völlig überfordert, wenn sie für jeden Schüler Vertrauter oder gar echter Freund sein wollten. Hier muss sich die Reformpädagogik von überzogenen Erwartungen verabschieden. Sie darf sich auch niemals mehr den begründeten Verdacht zuziehen, Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe zu dulden, zu verharmlosen und als harmlose Zärtlichkeiten ideologisch zu verschleiern.
Mehr Nüchterneit täte gut
Reformpädagogen haben ihre Idole und Gurus, und man kann, nach allen Erfahrungen, nur davor warnen, ihnen blind zu folgen. Gerade den Deutschen, die sich gern in metaphysischen Schwärmereien ergehen, täte mehr Nüchternheit gut. Der amerikanische Pragmatismus John Deweys ist ein besseres Vorbild als die schwülstige Erziehungsromantik der Landheim-Bewegung.
Reformpädagogen müssen ihre Sprache, ihre Theorie und Praxis radikal prüfen. Sie müssen auf Distanz gehen zur verschwiemelten Rede vom "pädagogischen Eros". Und sie müssen sich fragen, wie aufdringlich ihre Fürsorge sein darf und in welcher Umwelt Pädophile leichtes Spiel haben, unentdeckt zu bleiben. Das Verheerende am Fall der Odenwaldschule ist ja nicht nur, dass die Täter dort lange Zeit ungestört waren. Erschütternd ist auch, dass die Opfer, die bereits Ende der neunziger Jahre auf den Missbrauch hinwiesen, im kumpelhaften Ton, bei fortgesetztem hemmungslosen Duzen, erst hingehalten und dann abgewiesen wurden. Nur ihrer Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass endlich das ganze Verbrechen zu Tage tritt.
Die Idee bleibt bestechend
Die reformpädagogische Idee bleibt bestechend, jede Schule als Polis zu verstehen, in der gemeinsames Handeln geübt und die Demokratie gelebt wird. Demokratie in der Schule kann auch dazu beitragen, Kinder und Jugendliche zu stärken und zu schützen vor dem Machtmissbrauch von Erwachsenen. Doch die Schulgemeinschaft darf sich nicht völlig abkoppeln von der Gesellschaft, der Öffentlichkeit und dem Rechtssystem, das sie umgibt. Sie ist nicht autark, und sie muss gut kontrolliert werden. Die schulische Polis darf nie wieder in eine Despotie münden - weder in eine autoritäre Herrschaft noch in eine Tyrannei intimer Gewalt.