Süddeutsche Zeitung

Reformpädagogik:Die Nähe als Gefahr

Blutleere Korrektheit: Von Zucht und Ordnung hat sich die Pädagogik verabschiedet, doch bald könnten Schüler unter zu großer Distanz leiden.

Johan Schloemann

Der Missbrauch von pädagogischer Verantwortung, der in jüngster Zeit zu Tage tritt, hat auch eine grundsätzliche Frage wieder aufgeworfen: Wie ist es um das Verhältnis von Nähe und Distanz, von Disziplin und Zuwendung in der Erziehung bestellt?

"Es sind Kinder, es jämmert einem", seufzte einst der große pietistische Reformer August Hermann Francke. Denn August Hermann Francke, der sich um das Jahr 1700 in Halle an der Saale sein eigenes dreigliedriges Schulsystem aufbaute, setzte auf Sozialfürsorge, Lernen und Einsicht, und er sprach sich deshalb vehement gegen die Prügelstrafe aus - doch die Lehrer, die er an den eigenen Schulen einsetzte, hielten sich nicht alle daran, sie waren ja anderes gewohnt.

Parallele Vorgänge

Die Pädagogisierung der Gesellschaft- das heißt: rationale Disziplinierung, Durchsetzung der Schulpflicht, Wissensnormierung, Kontrolle - und die Bemühung um Vermenschlichung der Erziehung gehen in der Moderne miteinander einher. Der Ausbau des außerfamiliären Erziehungssystems, der mit einer wachsenden wirtschaftlichen Dynamik zu tun hatte, und der Einsatz für kindgerechte Humanität waren seit der Aufklärung parallele Vorgänge.

Regulierung und Reform sind Geschwister. Das Ergebnis dieses Zivilisationsprozesses, das trotz historischer Hindernisse erreicht wurde, ist heute: Es gibt bei aller staatlichen Formalisierung der Bildung mehr Respekt vor der Freiheit des Schülers, mehr Distanz, mehr Wertschätzung für die zwanglose Selbsttätigkeit und eine allgemeine Ächtung der Gewalt als Erziehungsmittel.

Gerade weil dieser Prozess weitgehend abgeschlossen ist, wirken traditionelle Klosterschulen und abgeschirmte Reforminternate auf uns besonders unzeitgemäß. Erst recht natürlich, wenn ihre Abgeschirmtheit zur Demütigung und zu sexuellen Straftaten ausgenutzt wird.

Die Reformpädagogik, der auch die vor 100 Jahren gegründete Odenwaldschule verpflichtet ist, hat bei jener Liberalisierung der Erziehung eine eigentümliche Rolle gespielt. Diese Bewegung, die in der "Lebensreform" um 1900 aufblühte und in der antiautoritären Strömung der sechziger Jahre einen legitimen Erben fand, ist einerseits ein Kind der Aufklärung: Sie folgte den Ideen der Freiheit und der Selbstvervollkommnung.

"Schule der Tat"

Andererseits ist die Reformpädagogik ein Gegner der Aufklärung: als Protest nämlich gegen die kapitalistischen Kräfte, die die Aufklärung freigesetzt hat, gegen das Funktionierenmüssen, gegen den verwalteten Menschen, gegen Messbarkeit, Naturferne, Rationalität und schmutzige Politik, kurzum: gegen den Modernisierungsprozess.

In dieser Fluchtbewegung- nicht im Umgang mit Disziplin und Strafe - berührt sich das reformpädagogische Milieu durchaus mit den konfessionellen Internatsschulen. Man wollte durch Erziehung ausgleichen, dass "Gemeinschaft" - wie 1887 der Soziologe Ferdinand Tönnies feststellte - immer mehr durch "Gesellschaft" verdrängt wurde. "Schule der Tat" hieß dann das Gegenmodell (Adolf Reichwein). Oder "Orden der Jugend" (Gustav Wyneken).

Wegen ihres Zwitterwesens ist es auch schwer zu bestimmen, was in der liberalisierenden Reformpädagogik eigentlich "linke" und was "rechte" Traditionsstränge sind. Das zeigt sich an zentralen Figuren wie dem Pädagogen Hartmut von Hentig, die in der Nachkriegszeit als Gurus einer besseren, demokratischeren Erziehung wirkten und zugleich eine spezielle platonische Exklusivität an sich haben.

Reformpädagogen bilden "typisch bürgerliche Bewegungen von meist akademischer, politisch eigenartiger Kultur und Provenienz", schreibt der Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth. Auch die heute geschwundene Toleranz gegenüber Päderastie fand sich bei libertinären Achtundsechzigern ebenso wie bei konservativen Humanisten.

Entsprechend zwiespältig war auch die Wirkung derjenigen Pädagogik, die alles anders machen wollte als die autoritären Pauker: Auf die konventionellen Schulen war ihr Einfluss, bei allem Streit über zu viel Laisser-faire, auch heilsam, was Menschenfreundlichkeit, individuelle Förderung, kritische Haltung und Gelassenheit angeht.

Pädagogische Freiheit kann auch Ausgeliefertsein bedeuten

Zum anderen aber haben die jüngsten Missbrauchsskandale wieder deutlich gemacht, dass die vermeintliche Abschaffung der Autorität auch wieder neue Autoritäten charismatischer Art und andere Abhängigkeiten schaffen kann. Was man aus der Odenwaldschule hört, ist auf seine Weise genauso grausam wie das eingeübte Terrorsystem der Klosterschulen: Pädagogische Freiheit kann eben auch Ausgeliefertsein bedeuten.

Wie aber geht es jetzt weiter? Die notwendige Aufarbeitung in den Internaten ist das eine. Doch die überwiegende Mehrheit der Schulen in Deutschland hat gar nicht die Probleme, die die Odenwaldschule oder das Kloster Ettal jetzt haben.

An den "normalen" Schulen herrscht heute oft nicht zu viel Nähe, sondern zu viel Distanz zwischen Lehrern und Schülern. Oberstufenschüler werden in bester Absicht gesiezt, um das Erwachsensein zu üben, während die orientierende Bindung an die Elternhäuser oft ebenso schwindet wie die an eindrucksvolle Lehrerpersönlichkeiten.

Gefahr der Verrechtlichung

Es wächst die Sorge, die verstörenden Geschichten aus den Internaten könnten einen verstärkten Generalverdacht der Eltern gegenüber den Pädagogen erzeugen. Während sich die Familien zu Hause entweder gar nicht um ihre Kinder kümmern oder sich von Disziplin-Traktaten und Supernannies verunsichern lassen, könnte die öffentliche Aufmerksamkeit für die Missbrauchsfälle bewirken, dass die Atmosphäre an den Schulen jetzt zunehmend von Verrechtlichung, blutleerer Korrektheit und Unpersönlichkeit geprägt wird.

Mit der Forderung nach mehr Ganztagsunterricht, nach mehr Erziehung und weniger Fachidiotentum aber geht das schlecht zusammen.

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Quelle:
SZ vom 14.04.2010/pak
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