Recruiting:Neuer Job per Chat

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Ob Discounter, Landwirtschaft oder Pflege – überall wird Personal gesucht. Herkömmliche Recruitingverfahren sind derzeit zu aufwendig. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Viele Firmen verhängen in der Krise Einstellungsstopps. Andere brauchen jetzt dringend Personal und arbeiten auch mit Spracherkennung. Wer profitiert davon?

Von Miriam Hoffmeyer

Die deutschen Supermärkte sind in diesen Wochen im Ausnahmezustand. In vielen Geschäften ist der Kundenandrang so stark wie sonst nur kurz vor Heiligabend. Die Verkäufer müssen leer geräumte Regale auffüllen und Hamsterer in die Schranken weisen, Kommissionierer und Fahrer haben alle Hände voll zu tun, um für Nachschub zu sorgen. Hinzu kommt, dass sich Mitarbeiter mit dem Virus anstecken und teils für Wochen ausfallen. Mit Überstunden allein ist das nicht zu schaffen.

Petra Steffens, bei der Rewe Group verantwortlich für das Kompetenzzentrum Recruiting, geht davon aus, dass während der Corona-Krise schlimmstenfalls doppelt so viel Personal in den Märkten eingestellt werden muss wie sonst: "Derzeit ändert sich der Personalbedarf in den Märkten und Warenlagern praktisch täglich." Normalerweise stellt Rewe pro Jahr 18 000 bis 20 000 Mitarbeiter im sogenannten "Blue Collar"-Bereich ein, also dort, wo die Waren an die Kunden gebracht werden - vom Lagerregal bis zur Kasse.

Um genug Personal zu finden, will Rewe möglichst bald, voraussichtlich noch in diesem Monat, bundesweit eine neue Technologie einsetzen: die automatische sprachgeführte Chat-Bewerbung über das Handy. "Talk'n'Job" heißt die Software des Heidelberger Start-ups Better Heads, die es Bewerbern so einfach wie nur möglich machen will. Wer sich für einen Job interessiert, klickt auf einen Link in der Stellenanzeige oder scannt einen QR-Code - und bekommt sofort per Ton die Fragen gestellt, die für den Job wichtig sind: relevante Berufserfahrung, Qualifikationen wie Lkw-Führerschein oder Staplerschein, gewünschte Arbeitszeiten.

Die Antworten sprechen die Bewerber einfach ein. Sie werden über eine automatische Spracherkennung in eine Textdatei umgewandelt, die ähnlich angelegt ist wie ein tabellarischer Lebenslauf und den Personalern einen ersten Überblick über Erfahrungen und Qualifikationen der Kandidaten verschafft. "Der große Vorteil ist, dass man sich von überall aus bewerben kann, keinerlei Unterlagen benötigt und auch keine App oder Software installieren muss", sagt Petra Steffens.

"Das digitale Recruiting geht gerade durch die Decke"

Niemand weiß, wie sehr die Krise den deutschen Arbeitsmarkt noch verändern wird. Doch die erwartbaren kurzfristigen Effekte zeigen sich jetzt schon. Zwar gibt es dazu noch keine Informationen der Bundesagentur für Arbeit, deren jüngste Datenauswertung sich auf die Zeit vor dem Stichtag 12. März bezieht. Da war das öffentliche Leben noch kaum eingeschränkt. Stepstone, eine der größten Online-Jobbörsen Deutschlands, hat aber bereits starke Veränderungen festgestellt: Bei den offenen Stellen in Hotels, Gaststätten und im stationären Einzelhandel (Lebensmittelgeschäfte, Drogerien und Apotheken ausgenommen) sei ein "massiver Rückgang" zu verzeichnen, zugleich gebe es deutlich mehr Jobangebote im Gesundheitssektor. Seit Mitte März veröffentlicht Stepstone Stellenanzeigen für medizinisches Personal kostenlos. Innerhalb weniger Tage wurden daraufhin 800 neue Jobofferten für Ärzte und Krankenpfleger geschaltet.

Auch kleinere, spezialisierte Jobbörsen wie Researchgate oder Jobvector veröffentlichen Stellenangebote für Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte derzeit kostenlos. Täglich würden zahlreiche offene Positionen gemeldet, teilt Jobvector mit: "Vor allem in den Bereichen Virologie, Infektiologie, notfallmedizinische Versorgung und Intensivmedizin, nicht nur von Kliniken und Krankenhäusern, sondern gleichermaßen von Einrichtungen der akademischen und industriellen Forschung." Auch viele Pharma-Zulieferer suchten dringend Personal, um mehr Testkits und Arzneimittel herstellen zu können.

In anderen Branchen dürften viele geplante Einstellungen erst mal auf Eis gelegt worden sein. Wer aber in diesen Wochen überhaupt einstellt, bemüht sich, die Kandidatensuche und -auswahl so weit wie möglich zu digitalisieren. Nicht nur die Erfinder neuartiger Lösungen wie Talk'n'Job werden davon profitieren. Bei den Anbietern von Bewerbermanagement-Software, automatischen Tools zur Kandidatenauswahl, Online-Assessments oder Videointerview-Software herrscht Goldgräberstimmung. "Das digitale Recruiting geht gerade durch die Decke", sagt Alexander Petsch, Geschäftsführer des HRM Research Institute und Veranstalter der Personalthemen-Messe "Talent pro".

Weil die Messe selbst auf Juli verschoben werden musste, wurden als Ersatz "Digital Days" angesetzt. Live-Demos der Aussteller, Video-Vorträge und Video-Podiumsdiskussionen zogen vom 23. bis 26. März rund 2100 registrierte Besucher an. Mehr waren zur realen Messe auch nicht erwartet worden.

"Die Trägheit etablierter Prozesse wird nur überwunden, wenn es nicht mehr anders geht"

"Bisher war es bei vielen Firmen noch so, dass die Bewerbungen per Mail eingingen, dann aber ausgedruckt und den am Einstellungsprozess Beteiligten ins Fach gelegt wurden", sagt Alexander Petsch. "Jetzt wird in sehr großem Umfang komplett auf digitale Prozesse umgestellt." Diesen Trend hat auch der Heidelberger Berater Wolfgang Brickwedde vom Institute for Competitive Recruiting ausgemacht, der eine Online-Umfrage zum Einfluss der Corona-Krise auf die Bewerbungsverfahren bei Unternehmen gemacht hat. Auch wenn die rund 450 Antworten nicht repräsentativ seien, könne man ein Stimmungsbild daraus ablesen, meint Brickwedde: "Mehr als zwei Drittel der Unternehmen haben angegeben, dass sie digitales Recruiting stärker nutzen wollen."

Vorstellungsgespräche per Video waren bislang nur dann die Norm, wenn sich der Bewerber oder ein anderer Teilnehmer im Ausland aufhielt. Das scheint sich gerade zu ändern. Beim Berliner Start-up Viasto, das unter anderem auf Video-Vorstellungsgespräche spezialisiert ist, habe sich die Nachfrage in den letzten Wochen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 80 Prozent erhöht, sagt Geschäftsführer Martin Becker.

Besonders mittelständische Unternehmen hätten schnell reagiert: "Wer bei einem typischen Mittelständler die Digitalisierung vorantreibt, trifft normalerweise auf viele Hürden", sagt Becker. "Die Trägheit etablierter Prozesse wird häufig nur dann überwunden, wenn es gar nicht mehr anders geht oder neue Entscheider das Unternehmen umkrempeln - oder wenn sie durch einen externen Schock von heute auf morgen nicht mehr funktionieren. Das ist in der aktuellen Krise der Fall."

Für Felix von Zittwitz von der Plattform Ausbildung.de bietet die Situation gerade für mittelständische Unternehmen eine Chance, für Lehrstellenbewerber attraktiver zu werden. "Schüler, die jetzt nicht wissen, wie es mit ihrem Abschluss weitergeht, wie sich die Situation entwickelt, haben sehr große Ängste. Gute Kommunikation mit den Bewerbern ist wichtiger als je", sagt Zittwitz. In kleinen und mittleren Unternehmen sei es grundsätzlich einfacher, Bewerbungsprozesse zu ändern und neue Online-Tools einzuführen, als in starren Konzernstrukturen.

Dass die Unternehmen später zu den herkömmlichen Verfahren der Bewerbersuche und -auswahl zurückkehren werden, halten die Experten für unwahrscheinlich. "An jedem Tag, an dem wir rein digital arbeiten, werden wir produktiver und professioneller", glaubt Messe-Veranstalter Alexander Petsch. "Dieser Lerngewinn bleibt auch nach dem Ende der Krise erhalten."

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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