Rechenschwache Schüler:Mathe? Ich verstehe nur Bahnhof

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Wenn Zahlen nichts als leere Wörter sind: Mindestens fünf Prozent der Schüler haben eine Rechenschwäche - daran sind auch die Lehrer schuld.

Elisa Peppel

Das Schiff ist 20 Meter lang und 5 Meter breit. Wie alt ist der Kapitän? Natürlich eine Scherzfrage, doch Klara beginnt sogleich zu rechnen: 20+5= 25 Jahre, ganz klar. Denn 20-5=15 muss ja falsch sein - mit 15 kann man schließlich noch keinen Führerschein haben. Was für kardinale Rechner sofort als sinnlose Aufgabe erkennbar wird, ist für ein sogenanntes rechenschwaches Kind wie Klara nur eines von vielen schwer lösbaren Problemen im Umgang mit Zahlen. Psychologische Studien schätzen, dass etwa fünf Prozent aller Schulkinder rechenschwach sind. Mathematik-Fachdidaktiker halten die tatsächliche Zahl der Betroffenen allerdings für mindestens dreimal so hoch.

Optische Hilfe: Rechenschwache Kinder benötigen schon für das Lösen einfacher Aufgaben Hilfsmittel. (Foto: Reuters)

Dyskalkulie, Rechenschwäche, Rechenstörung - es gibt viele Begriffe für das Phänomen. Laut dem Krankheitsindex ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation ist Dyskalkulie als Teilleistungsstörung klassifiziert, die eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten bezeichnet, "welche nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist". Doch manche Fachleute halten diese Definition für wenig brauchbar, klingt sie doch sehr nach einer Krankheit.

Meist ist eine Rechenschwäche aber lediglich die Folge fehlgeleiteter Lernprozesse. "Und wenn es das ist, kann man diese Lernprozesse auch wieder korrigieren", sagt Michael Gaidoschik, Mathematik-Didaktiker und Chef des Rechenschwäche-Instituts in Wien.

Kinder mit Dyskalkulie haben systematische Schwierigkeiten, einen Begriff von basalen mathematischen Konzepten und Operationen zu entwickeln. Sie verfügen über keinen ausgebildeten relationalen Zahlbegriff, für sie sind Zahlen vor allem Wörter in einer Zahlwortreihe und nicht Platzhalter für Mengen. Sie sind oft abhängig von Zählhilfen wie Fingern oder Steinen und können sich von dieser Methode auch weit nach der ersten Klasse nicht lösen. Weil ihnen grundlegende "pränumerische Einsichten" fehlen und Mathematik sehr hierarchisch aufgebaut ist, verschärfen sich im Verlauf der weiteren Grundschuljahre die Probleme.

Eine gute Präventionsarbeit schon im Kindergarten und Früherkennung durch gut ausgebildete Fachlehrer beim Schuleintritt könnte die Entstehung von Rechenschwäche verhindern. Schüler mit dieser Störung sind nicht weniger intelligent als andere, und auch organische Ursachen wurden bisher nicht eindeutig festgestellt. Michael Gaidoschik sieht vielmehr den Mathematikunterricht selbst als eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Rechenschwächen. "Das soll keine Schuldzuweisung an Lehrer sein", beteuert er, "die Mängel liegen im System Schule."

Es hapert vor allem an der Aus- und Fortbildung der Pädagogen, der Unterrichtsqualität, aber auch an Möglichkeiten der Einzelförderung an Schulen. "Man muss dafür sorgen, dass die Erstklässler-Unterrichtung hochprofessionell wird", meint auch Rudolf Wieneke, Leiter des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) in Berlin. "Wenn frühzeitig diagnostiziert wird, kann die Mehrzahl von Rechenschwächen verhindert werden."

Kinder, die Schwierigkeiten mit Mathe haben, leiden häufig an Dyskalkulie. (Foto: ddp)

In Deutschland gibt es zwar Fachlehrer für Mathematik auch an Grundschulen, doch allzu oft unterrichten Pädagogen anderer Disziplinen das Fach. Die Schwächen der Lehrerausbildung in Deutschland offenbarte kürzlich die internationale Mathematiklehrer-Studie TEDS-M. Die deutschen Mathe-Lehrer zeigten dabei mit die größten Leistungsunterschiede aller beteiligten Länder. Besonders große Probleme hatten Lehrer ohne Fachstudium in Mathematik. Dagegen schnitten die Grundschullehrer mit Fachstudium im Weltvergleich gut ab. Besonders Bundesländer wie Thüringen und Sachsen-Anhalt, die reine Grundschullehrer ausbilden, konnten dabei punkten.

In Berlin sind mittlerweile alle Grundschullehrer, die im Erstklassen-Unterricht Mathematik erteilen, zu einer Weiterbildungsmaßnahme zum Thema Rechenstörungen verpflichtet. Manche Experten meinen aber, dass sich der Mathematikunterricht darüber hinaus ganz grundsätzlich ändern müsste - weg von der Fixierung auf richtige Ergebnisse hin zu den Verstehensprozessen. Schulen haben die Pflicht, für das Verstehen zumindest der grundlegenden arithmetischen Kenntnisse zu sorgen, sehen diese Aufgabe für sich oft aber gar nicht, sagt Wolfram Meyerhöfer von der Universität Paderborn: "Schule ist eine Ausleseinstitution. Sie fühlt sich nicht dafür verantwortlich, dass jeder die Inhalte versteht, sondern dass jedem die Inhalte präsentiert werden."

Auch Klara hätte ein gut ausgebildeter Mathelehrer so manche Pein ersparen können. Ihre Schwierigkeiten wurden in der Schule - trotz mehrerer Hinweise durch die Eltern - lange nicht ernst genommen. Seit einem Jahr bekommt sie nun eine Lerntherapie an einem Rechenschwäche-Institut. Ihre Probleme in Mathe hat sie mit Hilfe der Therapie überwunden. "Jetzt machen wir aus der Rechenschwäche eine Rechenstärke", sagt das Mädchen selbstbewusst.

© SZ vom 19.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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