Süddeutsche Zeitung

Psychotherapie für Kinder:Wo Mitleid nicht weiterhilft

Lesezeit: 4 Min.

Immer mehr 12- bis 18-Jährige stecken in seelischen Krisen und brauchen einen Psychotherapeuten. Doch der Weg in den Beruf ist schwierig und kostspielig.

Von Jonathan Fischer

Immer wieder beliebt: Karikaturen, in denen Patienten auf der Couch liegend ihrem Psychodoktor ein Ohr abquatschen, während dieser seelenruhig im Hintergrund schlummert. Das wirkliche Leben sieht, wie so oft, anders aus. Vor allem nicht lachhaft, zumal schon Kinder auf die Hilfe von Psychotherapeuten angewiesen sind.

Wer von sich aus einen Psychotherapeuten aufsucht, hat schon einen wichtigen Schritt zu seiner psychischen Gesundung getan. Im Lauf der Therapie, einer Psychoanalyse etwa, soll der Klient dann lernen, unbewusste Konflikte bewusst zu machen und sich so für den Heilungsprozess zu öffnen.

Je früher desto besser. Deshalb kann die Arbeit der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten kaum überschätzt werden. Wer aber qualifiziert sich für diesen Beruf? Wie sieht die Ausbildung aus? Und welche Chancen haben Therapeuten auf dem Arbeitsmarkt?

Wolfgang Zorn arbeitet als Sozialpädagoge in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Nach Feierabend beschäftigt er sich mit dem Unbewussten, psychischen Widerständen oder "Krankheit als missglücktem Selbstheilungsversuch". Psychoanalytische Grundbegriffe, die zur Ausbildung des angehenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gehören. "Es ist die beste Qualifikation, die ich auf meinen Beruf draufsatteln konnte", meint er. "Außerdem sagt mir das psychoanalytische Menschenbild aus persönlicher Erfahrung zu."

Durchschnittlich jedes zweites Wochenende verbringt der 39-Jährige auf den Seminaren der Münchner Arbeitsgemeinschaft für analytische Psychotherapie (MAP), einem von drei durch die Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeuten (VKAJP) anerkannten Ausbildungszentren für diese Therapie-Richtung in Bayern. Bevor Zorn sich dort einschrieb, hatte er schon Erfahrungen mit zweifelhaften Instituten gesammelt: Anbieter, die horrende Honorare verlangen und ohne genügend qualifizierte Supervisoren arbeiten.

"Wegen der kostenintensiven Ausbildung", sagt Peter Bründl, Leiter der Kinder- und Jugendlichentherapie-Ausbildung der MAP, "haben wir es mit einem hart umkämpften Markt zu tun". Um Enttäuschungen zu vermeiden, rät er, sich vor einer Einschreibung beim VAKJP kundig zu machen. Deren anerkannte Mitglieds-Institute bieten eine fünfjährige, zeitlich sinnvoll gegliederte berufsbegleitende Ausbildung an. Inzwischen, hat Bründl beobachtet, steige die Anzahl der Bewerber wieder.

Nach der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetz im Jahre 1999 seien erst einmal viele Kandidaten von den neu geschaffenen Hürden abgeschreckt worden: So müssen Auszubildende seitdem 1800 Stunden unbezahltes Praktikum in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Einrichtung ableisten.

Der Praxisteil, sagt Wolfgang Zorn, sei der "Knackpunkt der Ausbildung". Ein Jahr lang hat er jede Woche eine Familie besucht, um ihr Kind zu erleben und Protokoll über seine Beobachtungen zu führen. "Du musst dich abgrenzen können in diesem Beruf, sonst wirst du verrückt." Dazu gehöre vor allem, sich nicht mit den Konflikten des Patienten zu identifizieren.

Jedes vierte Gespräch in der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie beziehe die Eltern ein. Wolle man Erfolg haben, dürfe man diese nicht ablehnen, sondern wohlwollendes Entgegenkommen signalisieren, "frei schwebende Aufmerksamkeit" setzen, wo man als Privatmensch allzu schnell Urteile fälle.

Eine Methode, die harte Arbeit am eigenen Selbst erfordere, sagt Zorn. "Mich reizt der Selbsterfahrungsanteil der Ausbildung. Wie sonst sollte man auch in der eigenen Gefühlswelt zu mehr Transparenz kommen?" Er sieht es als ein Abenteuer, mit anderen Menschen zu arbeiten.

Vor seiner Zulassung absolviert er 80 Stunden Gruppen-Selbsterfahrung, 35 Stunden Fallbesprechungen in einer so genannten Balintgruppe und nimmt ein halbes Dutzend supervidierte Anamnesen vor. Dazu kommen etwa 250 Stunden, die er selbst auf der Couch verbringt. Diese Lehranalyse schlägt mit jeweils 70 Euro pro Sitzung zu Buche. Zusätzlich überweist der angehende Analytiker monatlich 90 Euro Ausbildungsgebühr an sein Institut. Wer sich auf all diese Anforderungen einlasse, der bringe von Haus aus eine große Motivation mit, so Wolfgang Zorn. Von Abbrechern habe er noch nicht gehört.

Schließlich prüfen die seriösen Institute ihre Kandidaten vor einer Aufnahme: "Wer sich um einen Ausbildungsplatz bewirbt", sagt Peter Lehndorfer, der Vorsitzende der VAKJP in Bayern, "muss erst einmal eine Reihe von Interviews durchlaufen, die seine Motivation und Eignung für diesen Beruf erkennen lassen".

Früher habe man auf einschlägige Berufspraxis wert gelegt, nach dem neuen Psychotherapeutengesetz könne man die Ausbildung aber auch nach dem Hochschulabschluss beginnen - vorausgesetzt man hat Medizin, Psychologie, Pädagogik oder Sozialpädagogik studiert. Eine gewisse Lebenserfahrung aber hält er nach wie vor für entscheidend. "Man muss erkennen, ob ein Mensch genügend belastbar ist, sich nicht verstricken lässt, sich nicht in Mitleid verliert."

Bayernweit gibt es zur Zeit 750 analytische Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, davon 400 mit Krankenkassenzulassung. Alternative Berufsfelder sieht Lehndorfer für die Zukunft auch in Beratungsstellen, therapeutischen Wohngemeinschaften und psychosomatischen Kliniken. Doch solche Ausweichmöglichkeiten sind momentan überhaupt nicht nötig. Schließlich ist die Nachfrage nach psychoanalytischer Therapie enorm.

"Es gibt in diesem Bereich immer noch eine Unterversorgung für Kinder und Jugendliche", sagt Bründl. "Selbst in München mit seiner hohen Therapeutendichte ist es schwierig, Kinder sofort zu vermitteln." Dennoch kann sich Wolfgang Zorn nicht sicher sein, ob er nach seiner Approbation einen Praxisplatz in München erhält - sofern er eine Zulassung durch die Krankenkassen beabsichtigt. Diese akzeptieren nur eine bestimmte Anzahl von niedergelassenen Psychotherapeuten in einem Gebiet.

Praktisch ist die Nachfrage nach psychoanalytisch arbeitenden Kinder- und Jugend-Psychotherapeuten nicht gedeckt, theoretisch aber gilt ganz Bayern als gesperrt. Dieser aus einer gemeinsamen Bedarfsplanung von Erwachsenen- und Kindertherapeuten aller Ausbildungsrichtungen resultierende Widerspruch dürfe niemanden von der Ausbildung abschrecken, sagt Lehndorfer.

Einerseits habe man diese Regelung in der Vergangenheit stets durch Sonderbedarfszulassungen aufheben können. Andererseits sei die Zunft im Generationenumbruch: In den nächsten Jahren werden mehr Kindertherapeuten aus Altersgründen ausscheiden als Kandidaten nachrücken.

Nur auf der Couch scheint es kaum Nachwuchsprobleme zu geben: "Die Zahl der psychisch kranken Jugendlichen", hat die Deutsche Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erst kürzlich angemahnt, "steigt immer weiter. Inzwischen geraten bereits 20 Prozent der 12- bis 18-Jährigen in psychische Krisen. Ein Viertel der Betroffenen ist so krank, dass sie dringend therapeutischer Hilfe benötigen."

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SZ vom 2.
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