Prozess um Kassiererin:Ein Leben für 1,30 Euro

Barbara E. wurde entlassen, weil sie 1,30 Euro unterschlagen haben soll. Sie selbst sagt, sie musste gehen, weil sie in der Gewerkschaft war. Nun urteilt ein Gericht, ob ihre Kündigung rechtens war.

A.-K. Eckardt

Es sind 1,30 Euro, die Barbara E. ihren Job, ihre 90 Quadratmeter große Plattenbauwohnung, viele Nerven und noch mehr Schlaf gekostet haben. Genauer gesagt sind es zwei Pfandbons, die die Berliner Kassiererin unterschlagen haben soll. Einen für 48 Cent und einen für 82 Cent. Das behauptet zumindest ihr ehemaliger Arbeitgeber, der Supermarkt Kaiser's. Ob die fristlose Kündigung zulässig war, entscheidet an diesem Dienstag in zweiter Instanz das Berliner Landesarbeitsgericht.

Prozess um Kassiererin: Kassiererin Barbara E., von der Presse und Unterstützern nur "Emmely" genannt "Ich fange doch nach 31 Jahren nicht an zu stehlen!"

Kassiererin Barbara E., von der Presse und Unterstützern nur "Emmely" genannt "Ich fange doch nach 31 Jahren nicht an zu stehlen!"

(Foto: Foto: ddp)

Kollegin als einzige Zeugin

Geschehen ist die Sache mit den Pfandbons bereits vor gut einem Jahr, an einem Dienstagnachmittag, Ende Januar. Kurz nach Dienstschluss kauft Barbara E. an ihrem Arbeitsplatz im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen schnell noch ein paar Sachen ein und zahlt dabei unter anderem mit den besagten Pfandbons. Drei Tage später bittet die Distriktmanagerin sie zum Gespräch. In der Garderobe muss Barbara E. erst die Kitteltaschen leeren, dann den Rucksack und schließlich den Spind. Gefunden wird nichts, doch der Vorwurf bleibt: Barbara E. soll Pfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst haben, die ein Kunde zuvor verloren hat. Die einzige Zeugin ist eine Kollegin.

Barbara E. bestreitet die Tat vehement: "Ich fange doch nach 31 Jahren nicht an zu stehlen!" Genau so lange arbeitet die resolute 50-Jährige schon für den Supermarkt. Zu DDR-Zeiten gehörte dieser noch zur Handelsorganisation HO, Anfang der neunziger Jahre übernahm Kaiser's den Markt. "Ich war all die Jahre mit Herzblut Kassiererin", sagt die dreifache Mutter und Großmutter zweier Enkel.

"Solidarität mit Emmely"

Mit ähnlichem Eifer war sie allerdings auch Gewerkschafterin. Ende 2007 nahm sie an den Streiks im Einzelhandel teil, und auch sonst war sie, wie sie selbst sagt, eine, "die gerne die Klappe aufmachte". Das missfiel nicht nur ihrem Arbeitgeber, ist sich Barbara E. sicher, sondern auch so manchem Kollegen - unter anderem der Zeugin des vermeintlichen Diebstahls. Kaiser's will sich zum laufenden Verfahren nicht äußern, doch die geschasste Kassiererin ist sich sicher: "Die Streiks waren der eigentliche Grund, warum man mich loswerden wollte."

Das sahen auch viele Vertreter der Gewerkschaft Verdi so, Mitglieder der Linkspartei, Freunde und Sympathisanten. Sie ließen ihrer Wut freien Lauf, Barbara E. nannten ihre Unterstützer fortan Emmely. Sie riefen zu Boykotten auf, versammelten sich zu Kundgebungen vor Supermärkten, teilten Postkarten aus, veranstalteten Podiumsdiskussion, klebten "Emmely"-Plakate an Bushaltestellen und Laternenmasten. In Berlin tanzten junge Leute zu Technomusik eine Polonaise durch eine Kaiser's-Filiale und skandierten "Solidarität mit Emmely". In Köln klebten Aktivisten in zwei Supermärkten Aufkleber mit dem Spruch "Kundschaft solidarisch mit Emmely" auf Bananen und Rettiche.

Auf der nächsten Seite: Was ein Bienenstich mit der Entscheidung der Richter zu tun hat, die Kündigung in erster Instanz für rechtens zu erklären.

Ein Leben für 1,30 Euro

Zentral ist das Vertrauen

Doch alles Kleben und Skandieren half nichts: Im vergangenen Sommer lehnte das Arbeitsgericht Berlin Emmelys Klage gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber ab. In der Urteilsbegründung heißt es: "Betrug kann selbst dann als Grund zur fristlosen Entlassung ausreichen, wenn es sich um einen einmaligen Vorfall und um einen geringen Betrag handelt." Zudem könne nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern schon der schwerwiegende Verdacht, Grund zur außerordentlichen Kündigung sein.

Tatsächlich hat die Verdachtskündigung in Deutschland eine lange Tradition. Die zentrale Argumentationslinie des Bundesarbeitsgerichts ist das Vertrauen. Anders als im Strafrecht gilt deshalb im Arbeitsrecht nach ständiger Rechtsprechung weder die Beweispflicht noch der Geringfügigkeitsgrundsatz. So wurde etwa 1984 im sogenannten Bienenstichurteil die fristlose Kündigung einer Bäckereiverkäuferin bestätigt, die unerlaubt ein Stück Bienenstich gegessen haben soll.

"Skandalös" findet Benedikt Hopmann, Anwalt der Klägerin, das. "So eine Verdachtskündigung ist mit dem Rechtsstaatsprinzip und der daraus abgeleiteten Unschuldsvermutung nicht vereinbar." Wenn nötig will er mit seiner Mandantin bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Doch so weit, hofft Barbara E., wird es nicht kommen. Sie will endlich wieder arbeiten - als Kassiererin bei Kaiser's.

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