Protokolle:So wirkt der Mindestlohn in der Praxis - sechs Menschen erzählen

Der Bauer zahlt seinen Erntehelfern mehr, die Telefonistin verdient besser, die Verkäuferin muss verzichten. Sie und drei weitere Menschen haben mit uns über den Mindestlohn gesprochen.

Von Thomas Öchsner, Detlef Esslinger und Anne Kostrzewa

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Der Heimleiter kann keine Praktika mehr anbieten

Die Lücke schließen - Pflegetagegeldversicherung kann sich lohnen

Quelle: dpa-tmn

Willi Gruber (Name geändert), 57, Leiter einer heilpädagogischen Einrichtung in Bayern: Für eine Fachausbildung zum Heilerziehungspfleger verlangt die Berufsschule zwei Jahre berufliche Vorerfahrung. Meist läuft das über ein Praktikum in einer Einrichtung wie unserer. Weil das Praktikum nicht von einer Schule betreut wird, ist es seit Januar mindestlohnpflichtig. Für uns wurden Praktikanten damit plötzlich viel teurer. Bisher gab es pro Monat 325 Euro, mit Mindestlohn wären es 1000 Euro mehr. Das können wir uns nicht leisten, zumal sie ja keine volle Arbeitskraft sind, weil sie noch lernen. Wir mussten unseren Praktikanten deshalb ab Januar einen anderen Vertrag geben, um sie überhaupt weiterbeschäftigen zu können. Bei uns laufen sie jetzt als Pflegehelfer, das ist die unterste Tarifgruppe. Auch so können wir sie nur noch in Teilzeit beschäftigen, müssen also auf eine halbe Stelle verzichten. Das ist aber immer noch besser, als gar keine Praktikanten mehr zu haben. Praktikanten sind die Basis für die Zukunft unseres Berufs, ohne das Vorpraktikum können sie keine Fachkräfte werden. Die brauchen wir aber in unserer Branche so dringend. Wenn wir ihnen die Möglichkeit eines Vorpraktikums verbauen, schneiden wir uns ins eigene Fleisch.

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Der Bauer zahlt seinen Erntehelfern jetzt mehr

Erste Erdbeeren auf Karls Erdbeerhof

Quelle: dpa

Peter Höfler, 38, Gemüsebauer aus Nürnberg: Letztes Jahr hatten wir für Erntehelfer die 6,90 Euro, dieses Jahr sind's 7,40 Euro, und bis November 2017 steigt der Mindestlohn in der Landwirtschaft bis auf 9,10 Euro. Aber wir haben das Glück, hier in Bayern mit regionalen Waren höhere Preise erzielen zu können, weil der Verbraucher bereit ist, dafür mehr zu zahlen als für die Konkurrenz aus dem Ausland. Unser Gemüse schmeckt ja auch besser. In Holland wird geerntet, bevor die Tomate reif ist, und dann geht's ab zur Versteigerung. Wir hingegen ernten nur auf Bestellung, reif, vom Strauch weg. Probieren Sie beides, dann wissen Sie, warum es den Preisunterschied gibt. Außerdem dürfen Sie nie den Arbeitsaufwand vergessen. Sie können da zum Beispiel Karotten nicht mit einer Gurke vergleichen. Gurken und Tomaten werden von Hand gepflanzt, und ich muss Pflegearbeiten von Hand machen, wenn etwa bei der Gurke Triebe ausbrechen. Karotten werden mit der Maschine gesät und dann bloß noch geerntet. Kost und Logis haben wir den Erntehelfern immer schon berechnet, 5,50 Euro pro Tag. Ist nicht kostendeckend, aber ob wir den Betrag erhöhen, überlegen wir uns erst für die nächste Saison. 25 Prozent meiner Kosten sind Lohnkosten.

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Die Telefonistin verdient 70 Euro mehr im Monat

Lokführerstreik - Callcenter von DB Dialog

Quelle: dpa

Nancy Hoffmann, 27, Callcenter-Mitarbeiterin in Chemnitz: Ich arbeite seit vier Jahren als Kundenbetreuerin für den Callcenter-Dienstleister SNT Deutschland AG in Chemnitz. Ich berate die Kunden etwa bei Kfz-Versicherungen, helfe beim Bestellen von Kaffee oder Kauf von Blumen. Früher gab es dafür als Grundlohn etwa 7,50 Euro brutto pro Stunde. Bereits seit 1. Dezember 2014, also einen Monat früher als gesetzlich vorgeschrieben, bekomme ich 8,50 Euro, ohne Überstunden-Zuschläge oder Leistungsprämien. Die gibt es zusätzlich und sie werden nicht mit dem Mindestlohn verrechnet. Bei einem Grundgehalt von jetzt monatlich 1475 Euro brutto und einer 40-Stunden-Woche habe ich dadurch netto im Monat etwa 60 bis 70 Euro mehr, und das ist echt klasse. Sicherlich überlege ich mir nach wie vor ganz genau, wofür ich Geld ausgebe. Trotzdem bedeutet für mich der Mindestlohn, dass ich mich zum Beispiel beim Einkaufen im Wurstregal nicht immer nach ganz unten bücken muss. Jetzt ist es möglich, auch mal ein paar Cent mehr für eine 100-Gramm-Packung auszugeben. Ich kann auch mit meinem Lebensgefährten öfter abends essen gehen. Oder es sind eher mal ein Paar neue Schuhe drin, was ich als Frau natürlich sehr schön finde.

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Die Verkäuferin muss auf 500 Euro verzichten

Brezen beim Bäcker

Quelle: dpa

Susanne Keller (Name geändert), 42, Bäckerei-Verkäuferin in Mecklenburg-Vorpommern: Durch den Mindestlohn habe ich monatlich rund 500 Euro weniger auf dem Konto. Ich habe einen Teilzeit-Vertrag über 25 Stunden pro Woche. Tatsächlich arbeite ich aber oft 40 Stunden, weil wir nicht genug Mitarbeiter haben. Die Differenz wurde bisher als bezahlte Überstunden abgerechnet. Seit Januar fällt das weg, jetzt kriegen wir Überstunden in einem Zeitkonto gutgeschrieben. Das Problem dabei: Wir werden sie niemals abbummeln können, dafür arbeiten einfach nicht genug Kollegen mit. Erfahren habe ich die neue Praxis nicht vorab von meinem Chef, sondern erst Anfang Februar, bei einem Blick auf den Kontoauszug. Es war viel weniger Geld überwiesen als sonst. Als sogenannter Springer werde ich flexibel in unterschiedlichen Filialen der Bäckerei-Kette eingesetzt. Bislang gab es Fahrgeld bei Einsätzen, die mehr als 10 Kilometer vom Wohnort entfernt liegen. Auch das wurde gestrichen. Ein Gespräch mit dem Chef ist seitdem nicht zustande gekommen. Seine Sekretärin hat mich jedes Mal abgewiesen, sie sagte, dass das jetzt eben so sei. Einfach früher nach Hause zu gehen, traue ich mich nicht. Ich brauche den Job und will ihn nicht verlieren.

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Der Fleischer schimpft über die Dokumentation

Trend-Metzger Dirk Ludwig

Quelle: dpa

Bernd Carstensen, 48, Fleischermeister aus Tarp: Bei meinen Gesellen sind sämtliche Zeiten fix: Arbeitsbeginn, Pausen, Feierabend. Nur müssen wir jetzt alles aufzeichnen. Aber es geht ja auch mal einer zum Arzt. Früher haben wir gesagt, gut, dann bist du mal 'ne halbe Stunde weg. Jetzt schreiben wir das auf. Und jedes Mal muss man dafür ins Büro. Marion? (ruft nach hinten.) Meine Frau macht das. Wie viel Arbeitsaufwand hast du durch die Aufzeichnungen? Zwei Stunden im Monat, sagt sie, mindestens. Wir sitzen in unserem Betrieb ja nicht im Büro, wir arbeiten mit den Händen. Wir haben den Schutzhandschuh an, und Schürze. Immer alles ausziehen, Finger sauber machen, eintragen, alles wieder anziehen. Wenn wir das zwischendurch machen, ist es ein Riesenaufwand. Ich höre immer, dass ohne die Aufzeichnung der Arbeitszeiten getrickst werden könnte: dass die Arbeitnehmer zwar vielleicht den Mindestlohn bekommen, dafür aber länger arbeiten müssten. Aber dann verraten Sie mir mal eins: Warum müssen wir Fleischer alles dokumentieren, Bäcker aber nicht; abgesehen von ihren Minijobbern? Beim Elektriker versteh ich's, der ist mal hier und mal dort, und jeder Kunde muss exakt abgerechnet werden. Aber bei uns doch nicht.

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Der Zöllner findet den Wettbewerb so fairer

Kampf gegen Schwarzarbeit in Malerhandwerk wird verschärft

Quelle: dpa

Karl Grebe, 62, Zollbeamter, Bad Hersfeld: Ich prüfe seit mehr als 20 Jahren als Zollbeamter für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit Betriebe. Zu den Kontrollen kommen wir stets unangemeldet, sonst wäre das ziemlich nutzlos. Wir tragen Dienstkleidung und sind bewaffnet - man kann nie wissen, was einen bei so einem Besuch erwartet. Dabei wird zunächst erfasst, was die Arbeitnehmer verdienen, wie lange sie arbeiten, ob sie andere Jobs haben, zum Beispiel Arbeitslosengeld zusätzlich beziehen und was der Arbeitgeber an Sozialbeiträgen abführt. Später werden diese Angaben überprüft. In vielen Bereichen ist es schon lange vorgeschrieben, die Arbeitszeiten zu erfassen, im Prinzip auch für Minijobber, nur haben das viele Betriebe vielleicht nicht so ernst genommen, weil sie kein Bußgeld befürchteten. Ich verstehe nicht, warum die Wirtschaft die Dokumentationspflichten wegen des Mindestlohns so heftig kritisiert. Das ist kein großer Mehraufwand, schon die Vorlage eines Einsatzplans reicht, um den Aufzeichnungspflichten zu genügen. Ich finde es gut, dass jetzt die 8,50 Euro gelten. Das sorgt für einen faireren Wettbewerb, weil Arbeitgeber jetzt nicht mehr mit Billig-Löhnen Konkurrenten unterbieten können.

Protokolle: Anne Kostrzewa, Detlef Esslinger, Thomas Öchsner

© SZ vom 25.04.2015/mkoh
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