Probanden:Voller Körpereinsatz

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Zwei Monate im Bett, die Füße höher gelagert als der Kopf - für diese Übung sucht die Luft- und Raumfahrt Probanden. (Foto: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt)

Sie testen Medikamente, verzichten auf Schlaf, ertragen ungewohnte Situationen - Probanden verdienen Geld, indem sie ihre Gesundheit gefährden. Doch längst nicht jeder Interessent wird zugelassen.

Von Miriam Hoffmeyer

Einfach nur im Bett liegen und dabei 16 500 Euro verdienen? Das Angebot des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums (DLR), das in wenigen Wochen seine zweite Bettruhe-Langzeitstudie startet, erscheint auf den ersten Blick höchst verlockend. Kein Wunder, dass bei Andrea Nitsche rund 1400 Bewerbungen für 24 zu besetzende Betten landeten. "Das ging von der um drei Uhr nachts abgeschickten leeren Mail mit Betreff 'Will mitmachen' bis zum langen Bewerbungsschreiben mit Fotos", erzählt Nitsche, die seit Jahrzehnten Probanden für das DLR rekrutiert.

Alle Bewerber und weitere 2800 Kandidaten, die sich bereits früher in der DLR-Datenbank registriert hatten, erhielten Informationen über die Studie und einen fünfseitigen Fragebogen zu ihren Lebens- und Ernährungsgewohnheiten. Doch nur jeder achte füllte den Bogen aus. Auf den Weg zur Infoveranstaltung in Köln machten sich am Ende 88 Interessenten, unter ihnen 18 Frauen. Mehr als die Hälfte schied noch am selben Tag beim Persönlichkeitstest aus, bei dem Eigenschaften wie psychische Belastbarkeit und Zuverlässigkeit geprüft wurden.

Für das DLR könnte es also noch schwierig werden, alle Betten zu belegen. Und gemütlich wird es darin für die Probanden nicht: Um die Auswirkungen künstlicher Schwerkraft auf Menschen zu testen, bleiben sie 89 Tage lang auf Station, 60 davon im Bett, den Kopf tiefer gelagert als die Füße. Auch Essen, Waschen und Toilettengänge finden im Liegen statt, Besucher sind nicht gestattet. Zu den medizinischen Risiken gehören Muskel- und Knochenabbau, ein Papillenödem am Sehnerv, Kopf- und Rückenschmerzen. "Die Teilnehmer müssen topfit und gesund sein", sagt Nitsche. Die 28 Kandidatinnen und Kandidaten, die nach der rigiden medizinischen Auslese übrig geblieben sind, standen Mitte Februar vor der allerletzten Hürde - psychologischen Einzelinterviews.

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Der Kölner Lehramtsstudent Benjamin hatte sich 2015 für die erste Bettruhe-Langzeitstudie beworben, wurde aber nicht angenommen. "Im Nachhinein bin ich ganz froh darüber", meint er. Zumal ihm das DLR im vergangenen Jahr eine Alternative anbot: eine Schlafentzugsstudie. Zehn Tage auf der Probandenstation, fünf Nächte nacheinander mit nur fünf Stunden Schlaf. "Als ich das gehört habe, dachte ich: Ist ja lächerlich", sagt Benjamin. "Aber das hatte ich unterschätzt. Man konnte sich ja zwischendurch nicht mal schnell hinlegen. Es gab auch viel weniger Freizeit, als ich gedacht hatte, weil wir ständig Leistungs- und Konzentrationstests machen mussten." Obwohl die Stimmung unter den jungen Probanden gut war, sogar abends gemeinsam zur Gitarre gesungen wurde, waren die 1200 Euro Aufwandsentschädigung doch sauer erworben.

In Berlin, München, anderen Ballungsräumen und Universitätsstädten gibt es zahlreiche Kliniken und Auftragsforschungsinstitute, die regelmäßig Probanden suchen. Mit Plakaten in öffentlichen Verkehrsmitteln und Anzeigen, vor allem aber über Websites und soziale Netzwerke, werben sie um Menschen, die nicht davor zurückschrecken, ihren Körper für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen. Die Aufwandsentschädigungen berechnen sich nach Dauer und zu erwartenden Unannehmlichkeiten - beispielsweise häufigen Blutabnahmen. Auch Fahrtkosten werden erstattet.

Studenten wie Benjamin gelten als typische Zielgruppe. Doch auch Selbständige und Angestellte registrieren sich in den einschlägigen Datenbanken. "Das geht quer durch die Gesellschaft", sagt Maximilian Posch. Er ist medizinischer Direktor der Charité Research Organisation (CRO), hundertprozentige Tochter des Klinikums Charité und eines der größten Auftragsforschungsinstitute in Berlin. 300 bis 400 gesunde Probanden testen hier pro Jahr Medikamente. "Wir haben genügend Interessenten, aber es ist gar nicht so einfach, Proband zu werden", sagt Posch. "Die Vorgaben sind sehr strikt. Viele fallen heraus, die gesund sind, aber sozusagen nicht dem Gardemaß entsprechen." Deshalb brauche er drei bis vier Bewerber, um einen Probanden zu gewinnen.

Nicht selten melden sich Menschen bei der CRO, denen man ihre Armut ansieht. "Wenn wir merken, dass ein Interessent dringend Geld braucht, sind wir sehr vorsichtig", betont Posch. "Wir wollen nicht, dass sich jemand aus einer Zwangslage heraus dafür entscheidet." Ein Problem seien auch mangelnde Sprachkenntnisse: "Man muss sich im Infogespräch überzeugen, dass die Interessenten gut genug Deutsch sprechen, um die Einwilligungserklärung zu verstehen. Sie müssen ja wissen, worauf sie sich einlassen. Manchmal bekommt man den Eindruck, es würde so etwas wie ein Recht auf Teilnahme erwartet - das gibt es natürlich nicht."

In der allerersten Erprobungsphase eines neuen Wirkstoffs kommen nach Angaben des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VfA) nur Männer als Probanden infrage, denn bei Frauen ist die Gefahr zu hoch, dass sie während der Studie schwanger werden oder es zu Wechselwirkungen mit der Pille kommt. Später können auch Probandinnen teilnehmen - häufig verlangen die Ethikkommissionen das sogar, damit die Wirkung eines Medikaments nicht nur an Männern erforscht wird. Geeignete Probandinnen sind aber nicht immer leicht zu finden. "Frauen sind da zurückhaltender als junge Männer", sagt Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung beim VfA.

Für beide Geschlechter gelten meist Altersgrenzen zwischen 18 und 40 bis 50 Jahren, oft wird auch ein normaler BMI verlangt. Alkohol- und Drogenkonsumenten sowie starke Raucher sind von klinischen Prüfungen ausgeschlossen. Ob die Angaben der Kandidaten in diesen Punkten der Wahrheit entsprechen, bringen Voruntersuchungen an den Tag, in denen auch auf Rückstände von Alkohol, Drogen und Nikotin getestet wird.

Eine größere Herausforderung ist die Enttarnung von Probanden, die in zu kurzen Abständen an verschiedenen Studien teilnehmen und sich damit selbst gefährden - und auch die Forschungsergebnisse verfälschen. Ein zentrales Probanden-Register ist aus Datenschutzgründen nicht möglich. Seit Kurzem kommen aber digitale Lösungen auf den deutschen Markt, die einen Abgleich verschlüsselter Daten ermöglichen und so verhindern, dass Unerschrockene das Medikamententesten zur Haupteinnahmequelle machen. Von den internationalen Auftraggebern werden solche Systeme zunehmend verlangt.

Anders als früher halten nur noch wenige Pharmaunternehmen eigene Abteilungen für klinische Prüfungen vor, da es schwierig ist, sie optimal auszulasten. Die meisten Prüfungsaufträge werden an Auftragsforschungsinstitute vergeben, viele sind auf bestimmte Krankheiten oder Studienphasen spezialisiert.

Deutschland ist einer der wichtigsten Standorte weltweit für klinische Prüfungen. "Es gibt hier eine flächendeckende Versorgung mit großen Unikliniken, gut ausgebildete Ärzte und verlässlich funktionierende Behörden und Infrastruktur", erklärt Siegfried Throm. "Auch die gute Datenerfassung ist ein wichtiger Faktor."

Die Anzahl der Studien mit gesunden Probanden sinkt trotzdem: 2010 wurden in Deutschland noch 360 sogenannte Phase-I-Studien (siehe Infokasten) gezählt, 2017 nur noch 276, obwohl mehr neue Arzneimittel entwickelt werden. Das liegt nicht nur daran, dass es heute mehr Großprojekte mit Substudien gibt, die nur einmal gezählt werden, sondern spiegelt auch einen Trend zur Abwanderung in Staaten mit laxeren Vorschriften. "Mit Blick auf unsere hohen Standards bei Patienten- und Probandensicherheit sehen wir mit Sorge, dass immer mehr Studien in Schwellenländer außerhalb Europas verlagert werden", so das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.

Völlig risikofrei ist die Teilnahme an klinischen Prüfungen auch innerhalb der EU nicht: 2016 erlitten vier Probanden in Frankreich schwere Nebenwirkungen eines neuen Schmerzmittels, ein Mann starb. In Deutschland gab es bislang keinen vergleichbaren Fall. An Studien, die mit sehr hohen Risiken einhergehen - beispielsweise zur Erforschung neuer Krebsmedikamente, die das Immunsystem angreifen -, dürfen in allen Phasen nur erkrankte Probanden teilnehmen, die alle herkömmlichen Therapien schon erfolglos ausgeschöpft haben. Mit gesunden Teilnehmern werden derzeit vor allem Medikamente gegen Entzündungs-, Infektions- und Stoffwechselkrankheiten erprobt.

Probanden dürfen jederzeit zurücktreten

Die 26-jährige Vanessa aus Groß-Gerau nahm im vergangenen Herbst an einer Studie des Profil-Instituts für Stoffwechselforschung in Mainz teil, bei der verschiedene Varianten eines schon gut untersuchten Medikaments gegen Diabetes mit einem neuen Injektionsgerät getestet wurden. "Ich bin abends auf der Station angekommen und habe die anderen Probanden kennengelernt", erzählt sie. "Wir haben zusammen gegessen und ein Gesellschaftsspiel gespielt, das war ganz familiär." Die nächsten Tage waren wegen einer bekannten Nebenwirkung des Medikaments weniger angenehm.

"Nachdem ich es eingenommen hatte, musste ich mich übergeben. Einer Frau im Nebenzimmer ging es noch deutlich schlechter. Mein Körper hat sich dann an das Medikament gewöhnt, und ich habe es besser vertragen, eine leichte Übelkeit blieb aber. Deshalb war mir vor dem zweiten stationären Aufenthalt etwas mulmig, und ich habe ernsthaft überlegt, die Studie abzubrechen", sagt die Einzelhandelsverkäuferin. Probanden haben das gesetzlich garantierte Recht, jederzeit zurückzutreten, das Geld für den Aufwand bis zu diesem Zeitpunkt dürfen sie behalten.

Vanessa hielt dann doch durch - nicht nur die sechs Tage auf Station, an denen ihr bis zu fünfmal täglich Blut abgenommen wurde, sondern auch die zahlreichen ambulanten Untersuchungen im Anschluss. Ihre Angehörigen und Freunde hatten verschiedene Meinungen dazu. "Mein Chef und meine Kollegen wussten Bescheid, bei denen kam das gut an. Auch mein Papa und seine Lebensgefährtin fanden es gut, weil die Studie ja der medizinischen Forschung nützt. Meine beste Freundin und mein Freund hatten dagegen ziemliche Bedenken, vor allem nachdem mir schlecht geworden war." Eine andere Freundin registrierte sich ebenfalls in der Profil-Datenbank.

Von den 4000 Euro Aufwandsentschädigung flog Vanessa für fünf Wochen nach Australien. Ebenso wie der Kölner Lehramtsstudent Benjamin könnte sie sich vorstellen, noch einmal bei einer Studie mitzumachen. Doch sie sagt: "Ich würde kein Medikament einnehmen wollen, das noch nicht am Menschen erprobt worden ist."

© SZ vom 02.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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