Pro Geisteswissenschaften:Der Sex-Appeal der Reflexion

Forschungssonden am Rande der Denk-Galaxie: Warum die Geisteswissenschaften eine unverzichtbare Schule der Lebensklugheit sind.

Dr. phil. Christian Kortmann

Manchmal verflucht man die Entscheidungen, die man in jüngeren Jahren für unzweifelhaft hielt. Zum Beispiel dann, wenn man sich nach einem Jahrzehnt des geisteswissenschaftlichen Studiums schwer tut, im Berufsleben Fuß zu fassen. "Was habe ich überhaupt gelernt?" Darüber ist sich der promovierte Philosoph oft selbst ebenso im Unklaren wie seine potentiellen Arbeitgeber.

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Vielleicht ertappt er sich sogar bei dem einst verfemten Gedanken, dass man doch lieber etwas "Ordentliches" studiert oder nach dem Abitur eine Banklehre eingeschoben hätte. Denn dann könnte man sofort Geld verdienen. Der Job wäre wohl recht langweilig, aber die fällige Wohnungsmiete verlöre ihre Schreckensaura.

Doch dieses Alternativ-Szenario hätte einen wohl auch zu einer anderen Person gemacht, die den Umgang mit Zweifeln weniger eingeübt hat und nicht weiß, wie man temporäre Orientierungslosigkeit produktiv nutzt. Denn Bankangestellte oder MBA-Absolventen haben zwar einen sicheren Job, aber der schützt sie nicht vor metaphysischen Zweifeln.

Im geisteswissenschaftlichen Studium hat man den Möglichkeitssinn trainiert, ein Gespür für Falschheiten in der Sprache entwickelt und das Fragenstellen gelernt. Dass das Grundqualifikationen sind, merkt man spätestens dann, wenn einem klar wird, dass das Leben eine einzige offene Frage ist.

Scheinbare Weltfremde

Für ihre Gegner sind die Geisteswissenschaften ein organisiertes Verbrechen am Effizienzdenken. Dabei verstellt die universitätsbetriebliche Fassade den Blick auf das eigentliche Metier der Geisteswissenschaften. Hinderlich ist etwa die hartnäckig fortbestehende Schieflage in der kommunikativen Praxis: dass man sich vor einer klaren Ausdrucksweise fürchtet, dass nur das als "wissenschaftlich" gilt, das vollkommen unverständlich formuliert ist. Würde man diese unnötigen Potemkinschen Dörfer beiseite räumen, eröffnete dies den Disziplinen breitere Zugangswege: Auch Außenstehende würden erkennen, dass die Geisteswissenschaften Kurse der Lebensklugheit anbieten.

Als Studienanfänger begegnet man im universitären Betrieb Wesen, die einem zunächst völlig weltabgewandt erscheinen, doch merkt man bald, dass sie in einem Ideensystem leben, das man sich selbst erst erarbeiten muss: Man muss denken lernen. Dieser Verstehensprozess hat einen utopischen Zug, denn hinter den oftmals hässlichen Betonmauern der Seminare existiert die vermeintliche "Lost World" fort, eine Welt, die noch nicht restlos kapitalistisch durchrationalisiert ist, ein Gegengewicht zur pragmatischen Ökonomie, die unseren Alltag bestimmt.

Hier hat das Nachdenken über das Abseitige seinen Platz. Manches Forschungsgebiet mutet praxisfern und elfenbeintürmern an, doch kann man niemals ausschließen, dass diese Erkundungen im Randbereich der menschlichen Existenz eines Tages grundlegend für unser Denken werden: Wie wir Sonden an den Rand des Sonnensystems schicken, so müssen wir auch die entlegensten Winkel des Geistes kartieren.

Gerade in monoideologischen Zeiten wird die Reflexion für den Einzelnen immer wichtiger. Um es beruflich weit zu bringen, genügt eine Ausbildung, aber ein bewusst zweckfreies Studium formt die geistige Flexibilität, die einem ein Leben lang bei privaten und beruflichen Entscheidungen hilft. Grundbücher wie "Dialektik der Aufklärung" oder "Kritik der Urteilskraft" zu lesen und zu verstehen, ist wie ein Schutzschild, um als Individuum im Kapitalismus, der weder Konkurrenz noch Alternativen kennt, nicht unter dem anschwellenden materialistischen Grundrauschen zu ertauben.

So beweist die Fundamentalwissenschaft Philosophie gerade in einer sich verändernden Welt, wie wichtig sie ist. Klar, dieses Wissen könnte man sich auch autodidaktisch aneignen, jedoch ermöglicht der Universitätsbetrieb jungen Menschen einen kompromisslosen Einstieg und schützt das reifende Gehirn eine Zeit lang vor dem rauen Wind der Arbeitswelt. Das ist es doch auch, was wir an Menschen lieben: ihre Persönlichkeit, ihre Art zu denken. Das scheinbar Weltfremde zeigt sich hier voll vitaler Welthaltigkeit - dies allein schon rechtfertigt das Dasein der Geisteswissenschaften.

Dass der Anteil der Geisteswissenschaftler an der Gesamtzahl der Studierenden steigt, ist ein kulturpositives Signal, das zeigt, dass der Sex-Appeal der Reflexion ungebrochen ist. Geisteswissenschaften können auch in Zukunft davor schützen, auf dumme Gedanken zu kommen, wie etwa den, einen MBA-Abschluss zu machen.

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