Privatuni Witten-Herdecke:Der Geist ist willig, doch das Geld ist knapp

Sektenhafte Anthroposophen-Schmiede oder Elite-Uni? Wie Studenten in Witten-Herdecke Sponsoren von ihrer Hochschule überzeugen müssen.

T. Schultz, Witten

Im Keller der Universität Witten-Herdecke steht eine große silberne Truhe, in der die Leichen liegen. Eine Medizinstudentin arbeitet gerade an einem rechten Bein, sie präpariert den Nervenknoten im Beckenbereich. Die Nerven sehen aus wie Kabel, Anatomie-Professor Gebhard Reiss sagt, solche Nerven würden viel aushalten. Er ist ein lebenslustiger Typ, ein Wissenschaftler, über den viele Studenten in den höchsten Tönen sprechen. Früher lehrte er in Hannover, da gab es Massenvorlesungen mit Hunderten Studenten. In Witten beginnen jedes Semester nur 42 Medizin-Studenten, Vorlesungen gibt es hier nicht. Jeder kennt jeden, die Professoren nennen ihre Kurse "Sprechstunden".

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(Foto: Foto: dpa)

Wie lange sie ihre Sprechstunden noch abhalten können, weiß zurzeit niemand. Die private Universität ist in akuter Finanznot, an diesem Donnerstag wollen sich mögliche Geldgeber mit dem nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) treffen. Witten/Herdecke steht nicht zum ersten Mal vor der Pleite, gute Nerven musste man hier schon immer haben. Aber diesmal ist es so ernst wie nie zuvor.

Das große Geld fehlt

Vor Weihnachten strich Pinkwart die Subventionen des Landes in Höhe von 4,5 Millionen Euro und forderte drei Millionen Euro aus dem Vorjahr zurück. Seine Beamten vermissten einen soliden Finanzplan, Uni-Präsident Birger Priddat trat zurück, obwohl er die Vorwürfe nicht nachvollziehen konnte. Eine kurzfristige Rettungsaktion trug die Uni nur über den Jahreswechsel. Seit Jahren gelingt es zwar immer wieder, private Förderer zu gewinnen, doch das große Geld und eine sichere Einnahmequelle für den 30-Millionen-Etat fehlte.

Die Studenten haben Solidaritätskampagnen gestartet, ein Verein von Ehemaligen sammelte innerhalb von 72 Stunden 750.000 Euro an Spenden. Daneben läuft der normale Betrieb weiter, eine Studentin zählt unter dem Mikroskop weiße Blutkörperchen, in einem Seminar diskutieren vier Studenten mit dem Professor über die private und die gesetzliche Krankenversicherung.

Leichen im Keller

Von Agonie ist hier nichts zu spüren, auch wenn der Uni-Chor am Sonntagabend ausgerechnet, ganz in Schwarz gehüllt, das Verdi-Requiem vortrug. "Tag der Tränen, Tag der Wehen." Der Abend war seit langem geplant, und so schallt es nun durch die große Halle: "Weh! Was werd ich Armer sagen, welchen Anwalt mir erfragen, wenn Gerechte selbst verzagen?" Nur eine Treppe tiefer steht die Truhe mit den Leichen im Keller. Requiem aeternam dona eis, Domine. Schenke ihnen ewige Ruhe, Herr.

Als Metapher für die Morbidität der Hochschule taugt der Abend aber doch nicht. Er wird eher zum Zeichen unbändiger Energie und Schaffenskraft. Musikdirektor Ingo Ernst Reihl springt beim Dirigieren auf und ab, er ballt die Faust, er schwebt mit ausgebreiteten Armen beinahe in der Luft. Am Ende hebt der Chor an zum großen Libera me. Befreie mich.

Auf der nächsten Seite: Warum die Studenten in Witten-Herdecke eine Macht sind.

Der Geist ist willig, doch das Geld ist knapp

Manager, die Adorno lesen

Witten ist keine Musikhochschule, die meisten studieren Medizin oder Wirtschaftswissenschaft, sie sollen aber über die Grenzen ihres Fachs hinausblicken. Zum berühmten Geist von Witten gehört das Studium fundamentale, jeden Donnerstag ist "Stufu-Tag", es wird dann philosophiert und reflektiert, gemalt und gesungen. Niemand soll die Hochschule als Fachidiot verlassen, und so laufen hier angehende Manager herum, die Adorno lesen, und Philosophen, die wissen, wie ein Gehirn aufgebaut ist.

"Das Studium in Witten ist eigentlich eine Zumutung", sagt Konrad Siller. Er sagt es verschmitzt, denn der 24-jährige Student meint es als Lob. Es gibt wenig Vorgaben, die Studenten können vieles ausprobieren - in einer Zeit, in der die Bachelor-Studiengänge anderswo sehr verschult sind. Die Studenten werden in einem mehrtägigen Seminar ausgewählt, am Ende kommen meist sehr diskussionsfreudige junge Menschen nach Witten, leistungsorientiert, aber nicht blind streberhaft. Die Klassensprecher-Uni, so ist das Image. Und so ist die Wirklichkeit: Man sitzt in einer Runde von acht Studenten, fragt nach - sechs waren früher Klassensprecher.

Niemals stromlinienförmig

Die Studenten sind eine Macht in Witten, sie bestimmen mit, welche Professoren berufen werden, sie organisieren Kongresse und sind sogar Teilhaber der Hochschule. Die "Studierendengesellschaft" (SG) hält Anteile von 8,3 Prozent. Besonders stolz sind die Studenten auf ihren "umgekehrten Generationenvertrag", der es allen erlauben soll, trotz Studiengebühren nach Witten zu kommen. Wer kein Geld hat, zahlt später, wenn er gut verdient. Als die Uni 1983 startete, gab es keine Gebühren, mittlerweile müssen Medizin-Studenten 3000 Euro im Semester, Wirtschaftsstudenten fast 4000 Euro zahlen. Viele befürchten, neue Investoren könnten die Macht der Studenten brechen, den umgekehrten Generationenvertrag kippen und die Gebühren weiter in die Höhe treiben.

Diese Universität wollte nie eine stromlinienförmige Ausbildungsanstalt sein. Sie war stets eine Provokation: Ärzte fühlten sich herausgefordert von der sanften Medizin, die hier und im Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke propagiert wird. Manche sehen in Witten eine sektenhafte Anthroposophen-Schmiede, andere eine neoliberale Elite-Uni. Es ist weder das eine noch das andere.

Uni-Gründer Konrad Schily war Waldorfschüler, manche Studenten waren es auch, aber viele haben mit Anthroposophie überhaupt nichts am Hut. Und manch ein Student, der aussieht wie ein Jungmanager, sagt, er würde die Uni sofort verlassen, wenn nur noch die Kinder der Reichen hierherkämen oder man der Uni Renditeziele vorgäbe. Snobs machen um die Ruhrgebietsstadt wahrscheinlich ohnehin einen Bogen. Es gibt auffallend viele Spielhöllen in Witten, und der Asia-Imbiss verkauft das Hähnchen süß-sauer mit Pommes (!) für 2,20 Euro.

Traum von einer freien Uni

Konrad Schily hat in Witten sein Wahlkreisbüro. Der jüngere Bruder von Otto Schily sitzt für die FDP im Bundestag, aber nur noch bis zur Wahl im September. Er hätte noch länger gewollt, Schily ist zwar 71, wirkt aber noch immer jungenhaft und schelmisch. Und nun hat ausgerechnet ein Parteifreund, Landesminister Pinkwart, seiner Uni das Geld entzogen! Schily war jahrzehntelang Präsident der Uni, er hat sie geprägt wie kein Zweiter, jetzt schreibt er Briefe an den Ministerpräsidenten und an die Bundeskanzlerin.

Der Traum von einer freien Uni lässt ihn nicht los. Eine entstaatlichte Hochschule schwebte ihm vor, aber auch eine Hochschule, die sich nicht von privaten Finanziers kontrollieren lässt. Der Arzt und Psychiater Schily sagt: "Was die Bürokratie im Staat ist, ist das Controlling in der Wirtschaft." Doch nun braucht die Universität Witten/Herdecke erst einmal Geld, dringend. Vom Staat und von privaten Sponsoren. Schily hofft, dass das Geld kommt. Und er hofft, dass die Spender so weise sein werden, den Geist von Witten zu erhalten.

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