Präsentismus:"Krank sein darf ich nicht"

Wenn der Job mehr wert ist als die Gesundheit: Aus Existenzangst schleppt sich Anne Walther immer wieder krank zur Arbeit. Präsentismus nennen Mediziner das, immer mehr Deutsche sind betroffen.

Julia Bönisch

Diese Kaltschnäuzigkeit hatte Anne Walther (Name von der Redaktion geändert) nicht erwartet. Mit leichter Verärgerung hatte sie gerechnet, einem kleinen Hinweis vielleicht, dass sie künftig besser auf sich achtgeben solle, damit sie nicht mehr krank werde. Doch als ihr der Chef über die Sekretärin mitteilen ließ, dass sie bei ihrer nächsten Krankschreibung keinen Lohn mehr erhalte, bekam sie Angst. Um ihren Job, ihre Wohnung, ihre ganze Existenz.

Tabletten, dpa

Anwesenheit um jeden Preis - mit Schmerztabletten statt Krankenschein.

(Foto: Foto: dpa)

Anne Walther arbeitet auf freier Basis fünf Tage in der Woche für eine PR-Agentur. Im Prinzip erledigt die 28-Jährige die gleichen Jobs wie ihre festangestellten Kollegen, nur bekommt sie dafür weniger Gehalt und weniger Rechte: keinen Kündigungsschutz und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Das Gegenteil von Krankfeiern

Ihr chronisches Rückenleiden versucht sie deshalb einfach zu ignorieren. "Seit dieser Ansage aus meiner Firma gehe ich arbeiten, auch wenn der Arzt mich krankgeschrieben hat. Ich habe das Gefühl, dass ich es mir einfach nicht erlauben kann, zu fehlen."

Präsentismus nennen Arbeitsmediziner dieses Phänomen: Obwohl ein Mitarbeiter krank ist und sich elend fühlt, schleppt er sich zur Arbeit. Industrie und Forschung nehmen dieses Verhalten bislang kaum zur Kenntnis und beschäftigten sich lieber mit dem Gegenteil, dem Krankfeiern, auch Absentismus genannt.

Handfeste betriebswirtschaftliche Argumente

"Alle Unternehmen konzentrieren sich auf die Senkung der Fehltage", bestätigt der Arbeitsmediziner Hans Drexler von der Universität Erlangen. Dabei sei ein Krankenstand von null keineswegs normal. "Ein gesundes Unternehmen braucht auch einen gesunden Krankenstand. Der Zusammenhang 'Keine kranken Mitarbeiter - der größte Gewinn für die Firma' ist schlicht falsch."

In der Tat sind die Kosten, die der deutschen Wirtschaft durch kranke, aber trotzdem arbeitende Mitarbeiter entstehen, enorm - höher noch als die Kosten des Absentismus. Laut Schätzungen unterschiedlicher wissenschaftlicher Institute sind die finanziellen Ausfälle drei- bis siebenmal so groß und gehen in die Millionen.

Abgesehen von der moralischen Komponente gäbe es für Personalabteilungen also auch handfeste betriebswirtschaftliche Argumente, kranke Mitarbeiter nicht unter Druck zu setzen. Doch diese Erkenntnis hat sich bislang noch nicht herumgesprochen: In den vergangenen zehn Jahren ist der Krankenstand um mehr als 20 Prozent gesunken, 2007 fehlten jeden Tag durchschnittlich nur 3,21 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten - das ist der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung.

Betroffen sind Selbständige und Hochmotivierte

Zahlen der Bertelsmann-Stiftung sind ähnlich alarmierend: Demnach sind 71 Prozent der Deutschen innerhalb eines Jahres mindestens einmal zur Arbeit gegangen, obwohl sie sich eigentlich richtig krank gefühlt haben. Über 46 Prozent der Befragten - insgesamt über 1600 Arbeitnehmer - taten dies sogar mehrmals. Und 30 Prozent missachteten auch den Rat ihres Arztes, um in der Firma um jeden Preis anwesend zu sein.

Die Gründe für den zwanghaften Drang, sich keine Erholungsphase mehr zu gönnen und immer ins Büro zu gehen, sind vielfältig. Betroffen sind vor allem Selbständige, weil sie die Verantwortung für ihr Unternehmen und die Mitarbeiter tragen müssen. Auch die sogenannten Hochmotivierten gehören zur Risikogruppe: hektische, ungeduldige und sehr leistungsorientierte Mitarbeiter, die häufig parallel an mehreren Aufgaben arbeiten und deren Verhalten schnell in Arbeitssucht umschlägt.

Auf der nächsten Seite: Wie Anne Walther versucht, den Kreislauf aus Krankheit und Angst zu durchbrechen.

"Krank sein darf ich nicht"

Ein Ausfall bringt gleich das ganze Team ins Stolpern

Für die dritte Gruppe ist Anne Walther typisch. "Wir nennen das prekäre Arbeitsverhältnisse", sagt Eberhard Pech von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. "Zu wenig Lohn, keine soziale Absicherung, keine Arbeitnehmerrechte." In Deutschland müssen etwa 15 Prozent aller Beschäftigten unter solch schlechten Bedingungen arbeiten.

Weil Anne Walther keinen festen Vertrag hat, hatte sie Schwierigkeiten, bei ihrer Bank ein Girokonto zu bekommen. Ihr Antrag für eine Kreditkarte wurde abgelehnt, da sie kein Einkommen garantieren könne. Auch bei der Wohnungssuche hatte sie deshalb Probleme. "Diese Unsicherheit im Beruf ist der Grund für so viele Hindernisse. Ich bin permanent damit beschäftigt, mir über irgend etwas Sorgen zu machen."

"Normale" Arbeitsverträge haben auch ihre festangestellten Kollegen nicht: Eine Wochenarbeitszeit ist bei niemandem festgelegt, alle Angestellten arbeiten den "unternehmerischen Erfordernissen gemäß", wie es in den Kontrakten heißt. In der Praxis bedeutet das: jeden Tag Überstunden. Zahlreiche Aufgaben werden nur noch projektgebunden vergeben, so dass der Ausfall eines Kollegen gleich das ganze Team ins Stolpern bringt.

So gerät Anne Walther in einen dauernden Kreislauf aus Krankheit und Angst: Ihre Rückenschmerzen stressen sie aus Furcht vor den Folgen so sehr, dass sie unter Schlafstörungen leidet, tagsüber unkonzentriert ist und sie sich schließlich noch mehr Sorgen um ihre Arbeit macht, weil sie nicht voll leistungsfähig ist. Dazu kommt das unangenehme Gefühl, die Firma und ihre Kollegen im Stich zu lassen. "Ich weiß doch, dass die anderen es ausbaden müssen, wenn ich nicht komme oder unaufmerksam bin."

Ein Neuanfang in einem anderen Unternehmen kommt für sie auch nicht in Frage. "Werde ich in der Probezeit krank, würde ich mich wieder nicht trauen, daheimzubleiben."

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