Süddeutsche Zeitung

Pisa: Deutsche Schüler werden besser:Auf dem Weg ins Pisa-Glück

Das Bildungssystem in Deutschland hat Fortschritte gemacht. Doch der Erfolg hat eine Kehrseite: Drittklässler brechen wegen einer Drei in Tränen aus, Eltern feilschen mit den Lehrern um Noten - und Schüler leiden unter Burn-out.

Tanjev Schultz

Es ist schwer, vom Pisa-Schock ins Pisa-Glück zu kommen, aber Deutschland hat sich auf den Weg gemacht. Es ist teuer und mühsam, die Schulen zu stärken. Deutschland hat immerhin verstanden, dass dies notwendig ist. In der neuen internationalen Untersuchung, die an diesem Dienstag offiziell vorgestellt wird, werden die ersten Erfolge sichtbar, auch wenn Pisa nur einen kleinen Ausschnitt aus der weiten Welt der Schule misst.

Es bleiben viele Probleme und Sorgen. Eine gefestigte Bildungsrepublik sähe anders aus. Die Gruppe der Schüler, die kaum rechnen und lesen können, wenn sie die Schulen verlassen, ist immer noch zu groß. Doch die neuen Pisa-Ergebnisse sind ein ermutigendes Signal, dass die Debatten über Bildung und bessere Schulen in den vergangenen Jahren nicht vergebens waren.

Niemand kann Wunder erwarten in den neun Jahren, die zwischen der ersten und der jüngsten Studie liegen. Auf kontinuierliche Verbesserungen aber durfte, ja musste man hoffen. Und tatsächlich zeigen die Werte für Deutschland nach oben, anders übrigens als für Länder wie Österreich, das einen niederschmetternden Absturz erlebt. Das ist, bei allen dunklen Seiten des deutschen Schulsystems, ein Erfolg, über den man sich freuen darf. Die sehr deutsche Lust am Suhlen in schlechten Nachrichten sollte diese Freude nicht überlagern.

In den vergangenen Jahren ist in der Bildungspolitik vieles passiert, was man zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Die Kindergärten wurden ausgebaut und haben sich vom bloßen Betreuen auch aufs Bilden der Kinder verlegt. Sprachtests wurden eingeführt, Ganztagsschulen geschaffen, Hauptschulen geschlossen und mit anderen Schularten fusioniert. Es gibt neuerdings bundesweit gültige "Bildungsstandards", und an vielen Universitäten und Schulen sind die Sinne dafür geschärft, wie man den Unterricht didaktisch geschickter aufbauen kann. Vor allem in Mathematik und in den Naturwissenschaften hat sich einiges bewegt. Verstärkt lernen die Jugendlichen, eigenständig zu arbeiten und selbst Lösungen zu finden.

In einem Blick aus der Distanz ist der Wandel beachtlich, vor allem verglichen mit anderen Staaten. Deutschland hat sich die Pisa-Schlappe zu Herzen genommen. Je näher man allerdings heranzoomt an die deutschen Schulen, desto deutlicher sieht man die vielen Schmuddelecken, die weiterhin existieren. Es ist wie bei einer neuen Wohnanlage, die aus der Ferne zwar schon ganz schön aussieht, die aber zu großen Teilen noch im Bau ist. Geht man dort hinein und schaut sich um, erkennt man noch viel handwerklichen Pfusch, offen liegende Leitungen, Müll und Schutt, den die Bauarbeiter einfach zur Seite geschaufelt haben. So sieht es auch auf dem neuen Schulgelände aus, das gerade in Deutschland entsteht.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die Bauherren - also die Kultusminister - in der Planung mitunter ziemlich verzetteln. Sie fangen etwas an, lassen es dann aber halbfertig liegen. So ist es beispielsweise mit den Ganztagsschulen, denen oft das pädagogische Personal, die Gebäude und die Ressourcen fehlen, um wirklich ein gutes Programm bis in den Nachmittag anbieten zu können. Und so ist es bei der Ausbildung der Lehrer, bei der es ein Durcheinander gibt, zu dem der Föderalismus ebenso beiträgt wie das neue Studiensystem mit Bachelor und Master. Auch beim geplanten Bildungspaket für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern erschrickt man, wenn man genau nachschaut. Es ist ja gut, wenn Schüler aus ärmeren Familien besser gefördert werden sollen. Ob dafür aber die Jobcenter die richtigen Ansprechpartner sind und man erst eine riesige Bürokratie schaffen muss?

Technokratische und überstürzte Reformen gab es in den vergangenen Jahren schon zur Genüge. Das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium (G8) ist dafür ein warnendes Beispiel. Viele Lehrer, Kinder und Eltern wünschen sich jetzt vor allem Ruhe vor halbgaren Experimenten und stattdessen schnelle, unbürokratische Hilfe und mehr Freiräume für die Schulen. Vor lauter Sorge, bei der Bildung abgehängt zu werden, darf das Lernen außerdem nicht zu einer unerbittlichen Paukerei ausarten. Die Kehrseite der gestiegenen Aufmerksamkeit für Bildung ist der Mangel an Gelassenheit bei der Entwicklung der Kinder.

Viele Drittklässler brechen in Tränen aus, wenn sie im Diktat eine Drei nach Hause bringen. Eltern feilschen mit den Lehrern um Noten, und schon Schüler leiden unter Burn-out. Leider ist manchmal die Besonnenheit gewichen, die eigentlich notwendig ist, damit Kinder sich unbedrängt entwickeln und ausprobieren können. Sie lernen am besten, wenn sie auch Umwege gehen und Fehler machen können, ohne dafür bestraft zu werden; wenn sie geleitet und begleitet und manchmal auch etwas geschoben werden - nicht aber, wenn man ständig an ihnen herumzerrt.

Schulen sind nicht nur Kostenstellen, Prüfungsanstalten und Pisa-Testgelände. Sie sind Orte, in denen Kreativität und Muße und Freude herrschen sollen. Eigentlich müssten die Schulen aussehen wie Paläste, in denen jeden Tag ein Fest gefeiert wird.

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SZ vom 06.12.2010/segi
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