Felix Warnke zieht sich die Schürze aus und packt sie in den Wäschekorb im Mitarbeiterraum. Seit drei Monaten arbeitet der 16-Jährige jeden Samstag in einer alteingesessenen Hamburger Konditorei, verkauft Torten, Christstollen und Kekse an eine wohlhabende Kundschaft. Das macht er gut, die Kunden mögen ihn und geben ihm hin und wieder sogar Trinkgeld. Der Gymnasiast spart auf einen Laptop, er braucht ihn für die Schule und die Freizeit; zum Lernen, Praktikumsberichte schreiben und Netflix-Gucken.
Doch gerade klappt es nicht so gut mit dem Sparen. Denn von seinen elf Euro Stundenlohn darf Felix Warnke, der eigentlich einen anderen Namen trägt, nur 2,75 Euro behalten. Den Rest muss er ans Jugendamt abtreten.
Seit 14 Jahren lebt er bei einer Pflegefamilie, seine leiblichen Eltern können sich nicht kümmern. Dafür bekommen seine Pflegeeltern monatlich um die 900 Euro vom Jugendamt, für Unterhalt und weitere Kosten. Dieses Geld möchte sich der Staat nun von dem Schüler zurückholen: Felix soll drei Viertel seines Einkommens abgeben. "Unfair", findet Felix. "Alle meine Freunde jobben, um sich was dazuzuverdienen. Keiner von ihnen muss seinen Eltern etwas abgeben. Aber ich soll jetzt beim Amt für meine eigenen Kosten aufkommen. Was kann ich denn dafür, dass ich ein Pflegekind bin?"
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Dass der Staat bei erwachsenen Sozialhilfeempfängern oder erwerbsunfähigen Menschen zugreift, wenn sie über Einkommen oder Vermögen verfügen, ist bekannt. Doch auch Minderjährige sind davon nicht ausgenommen: Im achten Sozialgesetzbuch regelt Paragraf 94, dass junge Menschen und Leistungsberechtigte bei "vollstationären Leistungen" insgesamt "75 Prozent ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen" haben.
Das betrifft auch die ungefähr 142 000 Heimkinder und 90 000 Pflegekinder in Deutschland. Wenn sie als Jugendliche also im Café jobben, Zeitungen austragen oder im Supermarkt Konserven in Regale stapeln, um ihr Taschengeld aufzubessern oder für den Führerschein zu sparen, gehen drei Viertel direkt ans Jugendamt. Auch bei einer Ausbildung müssen sie 75 Prozent ihres Gehalts abgeben, wenn sie noch bei ihren Pflegeeltern wohnen.
Auch Felix' Pflegemutter findet die Situation unfair. "Es ist doch ein Zeichen von Reife und Verantwortungsbewusstsein, wenn sich ein Kind einen Job sucht, um eigene Bedürfnisse selbst erfüllen zu können", sagt Andrea Wagner. "Stattdessen muss Felix nun dafür haften, dass seine leiblichen Eltern nicht in der Lage sind, sich um ihn zu kümmern. Damit ist er doppelt benachteiligt, auch gegenüber seinen zwei Geschwisterkindern."
Andrea Wagner möchte allen ihren Kindern beibringen, dass harte Arbeit sich lohnt und man etwas leisten muss, um sich etwas leisten zu können - aber im Fall von Felix ist das gerade schwer zu vermitteln. "Die Wunde, dass er in unserer Familie kein leibliches Kind ist, ist für ihn eh schon groß - und so wird sie noch größer."
Carmen Reggelin kennt diese Situation genau. Die Erziehungswissenschaftlerin ist Pflegefamilienberaterin beim Hamburger Fachdienst für Familien (PFIFF gGmbH) und stößt in den Familien auf Betroffenheit, Unverständnis und ein Gefühl der Ungleichbehandlung, wenn es um die Kostenheranziehung des Arbeitseinkommens geht. "Gerade, wenn die Pflegekinder in Ausbildungsberufe gehen, kommt das Thema unweigerlich auf den Tisch", sagt Reggelin. "Wenn die Ausbildungsvergütung ohnehin schon gering ist und dann fast nichts übrig bleibt, ist das ein Schlag ins Kontor. Neulich ist ein junger Mann zurück zu seiner alkoholkranken Mutter gezogen, damit er sein Ausbildungsgehalt vollständig behalten darf. Das ist natürlich fatal."
Allerdings gibt es für die Jugendlichen die Möglichkeit, einen Antrag beim Jugendamt zu stellen, um sich von der Kostenheranziehung teilweise oder ganz befreien zu lassen. Der Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn die Tätigkeit dem Ziel der persönlichen Weiterentwicklung und damit dem "Zweck der Jugendhilfe" dient, den jungen Menschen also in irgendeiner Weise voranbringt. Darunter kann etwa das Sparen für den Führerschein oder auch die Ausbildungsvergütung fallen. Eine Befreiung kann außerdem möglich sein, wenn bei der ausgeübten Tätigkeit das soziale oder kulturelle Engagement im Vordergrund steht, wie etwa beim Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Bundesfreiwilligendienst.
Es liegt allerdings im Ermessen der zuständigen Jugendamtsfachkraft, in welchem Umfang auf die Anrechnung des Einkommens verzichtet wird. Deshalb ist es für die jugendlichen Pflegekinder häufig wichtig, die Pflegefamilienberatung an ihrer Seite zu haben, die sich mit den Einzelheiten der gesetzlichen Bestimmung auskennt und bei der inhaltlichen Begründung des Antrags unterstützen kann.
Ein Jugendlicher, den Carmen Reggelin berät, war mit seinem Antrag neulich erfolgreich: Der junge Mann absolviert seine Ausbildung im Küchenbereich einer Produktionsschule und arbeitet dafür von früh morgens bis zum späten Nachmittag. Sein Einkommen von lediglich 250 Euro monatlich darf er nun behalten, weil das Jugendamt befand, dass die Maßnahme pädagogisch wertvoll sei und seiner Weiterentwicklung diene.
Viele Pflegekinder müssten aber erst dazu ermutigt werden, einen Antrag auf Freistellung zu stellen, erklärt Reggelin: "Ihr Selbstwertgefühl ist oft angeschlagen und ihre Unsicherheit so groß, dass sie das Risiko einer Ablehnung nicht eingehen wollen. Sie möchten auch nicht als Bittsteller auftreten."
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Reggelin hofft, dass - wenn die Bundesregierung nicht grundsätzlich von einer Heranziehung des Einkommens bei minderjährigen Pflegekindern und Jugendlichen in Heimerziehung Abstand nehmen kann - zumindest irgendwann ein großzügiger Freibetrag verwirklicht wird. Dann könnten sich die Jugendlichen damit wenigstens das Geld für den Führerschein, ein neues Handy oder eine Reise selbst zusammensparen - wie alle anderen Jugendlichen auch.
Felix Warnke wird in Kürze einen Antrag auf Freistellung bei seinem Jugendamt stellen. Mit der Unterstützung seiner Pflegeeltern will er nachweisen, dass er einen eigenen Rechner braucht, um seine Schularbeiten erledigen zu können. Er hofft, dass er sein selbst verdientes Geld behalten darf. Falls nicht, ist er unsicher, was er tun soll. "Eigentlich möchte ich hier gern weiterarbeiten", sagt er. "Aber für 2,75 Euro die Stunde?"
Seine Chefin nickt. Sie will ans Jugendamt schreiben, falls der Antrag von Felix nicht bewilligt wird. In der Zwischenzeit möchte sie ihrem jungen Mitarbeiter aber etwas Mut machen. Bevor Felix den Laden verlässt, packt sie ihm noch einen großen Christstollen ein.