Süddeutsche Zeitung

Osteuropa-Stipendien:Vorsichtige Annäherung

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Für osteuropäische Länder gibt es viele attraktive Stipendienangebote. Bisher wollen aber vergleichsweise wenige deutsche Studenten für ein Auslandssemester nach Osteuropa oder gar Zentralasien.

Von Lea Weinmann

Wenn Sophie Rebmann längere Zeit nicht in Polen war, dann bekomme sie "Entzugserscheinungen", wie sie sagt. Anfang März hatte sie vier Tage frei - und setzte sich spontan in einen Bus nach Krakau. "Ich hatte so Sehnsucht danach, wieder Polnisch zu sprechen", meint sie. Die 28-Jährige besitzt den deutschen und den polnischen Pass, ihre Mutter ist Polin, die Sprache ihre zweite Muttersprache. Es kommt also nicht von ungefähr, dass die junge Frau große Teile ihres Studiums in Osteuropa absolviert hat. Von Februar 2017 bis Juni 2018 studierte sie Politik- und Literaturwissenschaften in Krakau und Sarajevo, den Hauptstädten Polens und Bosnien-Herzegowinas - eher ungewöhnliche Orte für einen studentischen Auslandsaufenthalt.

Knapp 2300 deutsche Studenten hat der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD) nach eigenen Angaben im Jahr 2017 in Polen gefördert, in Bosnien waren es gerade einmal 91. Zum Vergleich: In Spanien wurden im gleichen Zeitraum knapp 7900 deutsche Studenten gefördert, im Vereinigten Königreich und in Frankreich jeweils etwa 7000.

Der Mainstream strebt also zweifellos Richtung Westen. Dabei gibt es zahlreiche Programme, die ein Studium in osteuropäischen Ländern unterstützen. Sophie Rebmann erhielt finanzielle Unterstützung durch das Stipendium "Metropolen in Osteuropa", einem gemeinsamen Förderprogramm der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung. Die beiden Stiftungen wollen mit dem Stipendium "neugierigen Studierenden einen Weg nach Osteuropa ermöglichen, damit sie dort ihre eigenen Projektvorhaben realisieren können", sagt Programmleiter Thomas Schopp. Das müsse nicht zwingend ein Studium sein - auch Praktika oder Forschungsaufenthalte würden gesponsert.

Auf die bis zu neun Stipendien, die die Studienstiftung jährlich vergibt, kommen durchschnittlich 60 Bewerber, sagt Schopp. "Die Chance, dass es klappt, steht also gut." Wichtig sei bei der Bewerbung, dass man sich mit seiner Wunschregion beschäftigt habe und eine überzeugende Projektskizze vorweise. Das Stipendium ist auf mindestens sieben Monate im Ausland angelegt - und zielt damit auf diejenigen ab, die sich längerfristig mit einem Land auseinandersetzen wollen.

Zu Sophie Rebmann passte das Programm perfekt: Schon nach dem Abitur zog es sie ins Ausland, sie absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr in Sarajevo. Danach ergatterte sie ein Recherchestipendium im ehemaligen Jugoslawien, forschte zur kriegsbedingten Migration. Für ihr Studium der Politik- und Literaturwissenschaften ging es wieder nach Polen, erst zwei Semester mit Erasmus, dann für ein Praktikum ans Goethe-Institut in Krakau. Dort stolperte sie im Jahr 2016 über das Stipendium. Gerade hatte die nationalkonservative PiS-Partei die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen; beim "Schwarzen Protest" demonstrierten Tausende Frauen gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze - für Rebmann eine "superspannende Zeit". Sie wollte bleiben.

Die 28-Jährige ist fasziniert von den Regionen, die sie bereiste. Sie kommt immer wieder auf die politische Situation zu sprechen, die "neu ausgehandelt werde" und auf die Stunden, in denen sie mit polnischen Kollegen selbst auf der Straße stand und demonstrierte. Mittlerweile hat Rebmann ihr Studium abgeschlossen und absolviert eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Dort ist sie "die mit dem Osteuropa-Fokus". Sie kann sich gut vorstellen, künftig Artikel und Beiträge aus diesen und den umliegenden Ländern zu liefern - die nötigen Kontakte habe sie in der Zeit knüpfen können.

Russland ist besonders gefragt. Manche studieren dort, andere machen ein Firmenpraktikum

Nun muss nicht jeder Student, der sich für Osteuropa interessiert, gleich mehrere Jahre dort verbringen. Auch Sabrina Reimchen ist zweisprachig aufgewachsen. Ihre Mutter ist Russin, ihr Vater ein sogenannter Russlanddeutscher. Im Sommer 2018 wollte die 26-Jährige wieder zu ihren Wurzeln reisen - "mir war nur noch nicht so klar, wohin". Spontan bewarb sie sich für eine der Sommerschulen des DAAD in Russland. Auf ihrem Stundenplan: die Wirtschaft, Kultur und Politik Russlands - passend zu ihrem kulturwirtschaftlichen Studium. Zwei Wochen lang belegte sie Seminare an der Staatlichen Universität Tscheljabinsk am Ural.

Die Sommerschulen sind eine der drei Säulen des DAAD-Programms "Go East", zu dem Semesterstipendien und eine Praktikumsförderung in Russland gehören. "In Osteuropa steckt deutlich mehr Potenzial, als man gemeinhin denkt", sagt Martin Krispin, Leiter des Referats Stipendienprogramme Osteuropa, Zentralasien und Südkaukasus beim DAAD. Die dortigen wirtschaftlichen Möglichkeiten würden unterschätzt. Doch Experten für Armenien und Georgien fielen nicht vom Himmel.

523 deutsche Studenten haben im vergangenen Jahr an einer der 48 Sommerschulen sowie einer Winterschule in insgesamt 21 Ländern Osteuropas, Zentralasiens und des Südkaukasus teilgenommen. Die zwei- bis vierwöchigen Programme sind so vielfältig wie die Länder selbst: Es gibt Vorlesungen zur biologischen Diversität in Kasachstan oder ein Forstpraktikum am Baikalsee. Eine Sommerschule in Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans, hat sich auf die Sprache und Kultur des Landes spezialisiert, und an der Universität Pristina lernt man die kulturelle und politische Situation Kosovos kennen. Mit den jeweiligen Seminaren und Ausflügen wird meist ein Sprachkurs verknüpft.

Die meisten Studenten seien nach Angaben des DAAD an Russland interessiert - etwa die Hälfte aller Teilnehmer verschlug es demnach an eine der russischen Sommerschulen. Sabrina Reimchen hat in den zwei Wochen festgestellt, "dass ich noch viel mehr über dieses Land erfahren will". Im April beginnt die Studentin ein sechsmonatiges Praktikum bei einer Unternehmensberatung in Moskau - wiederum gefördert durch das Praktikantenprogramm des DAAD. Ihre Zeit in Tscheljabinsk war zwar kurz, aber für sie lang genug, um sich für das Land zu erwärmen.

Genau das sei auch das Ziel der Sommerschulen, sagt Martin Krispin: Es gehe nicht um eine "akademische Lebensentscheidung", sondern darum, Interesse zu wecken. "Viele der Studenten haben bisher wenig Erfahrung mit der Region und wollen einfach mal in den wilden Osten reinschnuppern", sagt der Osteuropa-Experte. Und wie Sabrina Reimchen interessieren sich einige danach mehr für das Land, schließen ein Auslandssemester oder ein Praktikum an. "Die Sommerschulen sind dafür nicht mehr, aber auch nicht weniger als der erste Schritt", so Krispin.

Ukraine, Kosovo, Russland - die politische Situation in einigen Ländern Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens ist schwierig. Krispin gibt zu, dass es "keine Regionen sind, die es einem immer leicht machen". Das Interesse der Studenten und der akademische Dialog seien von "politischen Turbulenzen" aber weitgehend verschont geblieben. "Die Krisen führen sogar dazu, dass die Leute sich erst recht für ein Land interessieren." Auch Thomas Schopp von der Studienstiftung erkennt keinen Rückgang der Bewerberzahlen. Von einer Aufwärtsentwicklung können die Organisationen allerdings auch nicht sprechen.

Osteuropa bleibt ein Exot unter den Zielen für ein Auslandsstudium. Sophie Rebmann und Sabrina Reimchen kennen nur wenige Kommilitonen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Rebmann erklärt sich das mangelnde Interesse damit, dass die Region "lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang war. Da ist man eben nicht hingereist". Doch sie nehme Veränderungen wahr, und sei es nur die Tatsache, dass Fluggesellschaften osteuropäische Städte von Deutschland aus mittlerweile direkt anfliegen. Die Deutschen würden nach und nach aufmerksam. Sie ist sich sicher: "Das ist alles eine Sache der Zeit."

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Quelle:
SZ vom 17.05.2019
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