Deutschland, wir kommen! Wenn zum 1.Mai das erweiterte EU-Freizügigkeitsgesetz in Kraft tritt, werden in der Bundesrepublik auch Menschen aus Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Lettland, Estland, Litauen und der Slowakei arbeiten dürfen. Dann kann der deutsche Arbeitsmarkt eines seiner größten Probleme in Angriff nehmen: den Fachkräftemangel. Das glaubt jedenfalls Timo Baas vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Er verweist auf Irland, das schon 2004 seine Grenzen für ausländische Arbeitnehmer öffnete: "Die Iren haben vor allem Bauingenieure gebraucht, deshalb sind viele Bauingenieure dort hingegangen."
Die Fahnen von Deutschland, der Europäischen Union und von Polen am deutsch-polnischen Grenzübergang in Frankfurt (Oder).
(Foto: dpa)Allein in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik können aktuell 117.000 Stellen nicht besetzt werden, stellt das Institut der deutschen Wirtschaft Köln fest. Am zweitschlimmsten ist die Pflegebranche betroffen: 2010 fehlten dort laut Arbeitgeberverband Pflege 20.000 Fachkräfte.
Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sieht die deutsche Umsetzung des EU-Gesetzes deshalb als überfällig an. "Wegen des Fachkräftemangels und der demographischen Entwicklung ist die Öffnung unseres Arbeitsmarktes wichtig", sagt Georgia Heine, Fachreferentin Arbeitsmarkt. Besonders über Auszubildende würde sich die BDA freuen. Das IAB gibt dieser Hoffnung Nahrung: "Viele Abwanderer sind extrem jung, von Anfang 20 bis in die 30er hinein", sagt Experte Baas.
Am Fachkräftemangel werde aber auch der 1. Mai nichts ändern, prognostiziert der Präsident der polnischen Arbeitgeberkammer, Tomasz Major: "Das, wovon Deutschland träumt, wird es nicht kriegen. Die qualifizierten Arbeitnehmer sind schon in Deutschland, oder für sie ist der Standort nicht interessant." Tatsächlich dürfen Arbeitgeber schon seit 2009 gezielt Angehörige sämtlicher akademischen Berufe im Ausland anwerben. Auch den Fall Irland sieht Major kritisch. Zwar seien in den Jahren 2004 und 2005 viele Polen nach Großbritannien und Irland abgewandert. "Da waren auch Fachkräfte dabei, aber die Mehrheit war unqualifiziert."
600.000 bis 900.000 Freizügigkeits-Zuwanderer erwartet das IAB bis 2020. Der Großteil davon dürften Polen sein: Die polnische Arbeitgeberkammer rechnet mit mehr als einer halben Million, die ab Mai in Deutschland auf Jobsuche gehen könnten. "Für viele Un- und Wenigqualifizierte wird das eine Chance sein", sagt Major. "Diese Menschen haben in Polen keine Zukunft." Der polnische Mindestlohn betrage netto 230 Euro im Monat, ein Arbeitsloser erhalte ein halbes Jahr lang "100, 150 Euro im Monat - darüber hinaus bekommt er gar nichts".