Süddeutsche Zeitung

Neuropsychologe im Interview:"Der blinde Glaube ans Expertenwissen ist ein Zeichen von Dummheit"

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Der Neuropsychologe Ernst Pöppel fordert: "Traut euch zu denken!" Er erklärt, was an der Informationsflut problematisch ist und wie Firmen Teamwork fördern können.

Interview von Sarah Schmidt

Allzu oft verlaufen die Gedanken in den immer gleichen Bahnen, dabei wäre gerade jetzt viel Kreativität gefragt. Der Neuropsychologe Ernst Pöppel war Professor an der Universität München und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Prozessen des menschlichen Hirns. Gerade ist das Buch " Traut euch zu denken!" herausgekommen, das er gemeinsam mit der Paartherapeutin Beatrice Wagner geschrieben hat.

SZ.de: Sie bemängeln eine "allgemeine Verdummung". Wie kann das sein? Schließlich sind doch so viele Informationen für jeden Einzelnen jederzeit verfügbar. Die Menschen sind so gut gebildet wie noch nie.

Ernst Pöppel: Gerade die einfache Verfügbarkeit ist ein Problem. Wir Menschen sind von Natur aus faul, wir machen uns das Leben gern so einfach wie möglich. Das ist ressourcenschonend. Wenn ich mir mit wenigen Klicks Informationen beschaffen kann, muss ich selbst weniger denken. Die Konsequenz ist Dummheit. Ich durchschaue keine Zusammenhänge mehr.

Sie meinen, wir sind zu unkritisch und hinterfragen zu wenig?

Jeder hat eine Verantwortung für sich und das eigene Denken. Die muss man allerdings auch übernehmen. Der blinde Glaube ans Expertenwissen ist auch ein Zeichen von Dummheit.

Gerade im Arbeitsleben fühlen sich viele Menschen eingeengt in ihrem Denken und in ihrer Entscheidungsfreiheit. Dabei sind Unternehmen heute besonders auf Innovationen angewiesen. Wie passt das zusammen?

Unser Bildungssystem, die ganze Erziehung und eben auch das Arbeitsleben sind so ausgelegt, immer genau das zu tun, was andere mir sagen. Wenn ich aber immer nur das lernen soll, was in den Büchern steht, wie kann ich dann begreifen, dass ich auch selbst denken könnte? Wir verlernen Stück für Stück, uns selbst zu trauen, uns ein eigenes Urteil zu bilden.

Wie ließe sich das ändern?

Mit einem anderen Bildungssystem. Ich verfechte eine Dreifachgliederung. Jeder sollte lernen, eine bestimmte Sache perfekt zu können. Man sollte sagen können: "Ich bin Spezialist. Ich bin der Beste darin, vielleicht sogar der Beste auf der ganzen Welt." Zweitens sollte jeder die "Landkarte des Wissens in der Welt" kennen - eine Art kanonisches Wissen darüber, auf welchen Feldern es weitere Experten gibt. Das Dritte ist: Wenn ich weiß, dass andere in anderen Bereichen tiefe Löcher bohren, dann muss ich das anerkennen und wertschätzen.

Im dritten Schritt geht es also darum, das unterschiedliche Experten-Wissen zusammenzubringen?

Genau. Dann sitzt ein Spezialist für Molekularbiologie jemandem aus der Informatik gegenüber; man redet in der Küche, dann entsteht etwas Neues. Dazu gehört Respekt vor dem anderen. So kann sich ein Netzwerk gemeinsamen Wissens und gemeinsamen Handelns entwickeln. Bislang laufen die Schulfächer, die wissenschaftlichen Disziplinen weitestgehend parallel und auch in Unternehmen wird noch viel zu wenig interdisziplinär gearbeitet. Man beginnt zwar, Verbindungen herzustellen, doch allzu oft fehlt es an Offenheit und Interesse.

Bis Ihr Ideal in den Schulen und Universitäten verwirklicht ist, würde sicher sehr viel Zeit vergehen. Gibt es etwas, das Unternehmen schon jetzt tun können, um die Zusammenarbeit der Mitarbeiter zu verbessern?

Ja, das hat jeder CEO selbst in der Hand. Es geht darum, jedem Einzelnen das Gefühl zu geben: Wir haben ein gemeinsames Ziel und deine Arbeit, dein Spezialwissen ist wertvoll. Viele Führungskräfte und auch Professoren tun sich schwer damit, anzuerkennen, dass andere in bestimmten Bereichen mehr Wissen haben. Die müssten sich trauen, auch zuzugeben, dass sie bei etwas keine Ahnung haben.

Gerade bei der Teamarbeit hapert es oft. Wie fördert man das Denken im Team?

Das Wichtigste ist: zuhören. Ich muss offen sein für die Meinung anderer. Was leider sehr häufig passiert, ist, dass derjenige, der am schnellsten und besten reden kann, dominant wird. Wer nicht den Mut hat, sich zu äußern, wird umgepflügt. Das fängt schon in der Schule an, wenn immer nur der Schüler drankommt, der sich als Erstes meldet. Dieser Fokus auf Schnelligkeit züchtet eine Oberflächlichkeit heran. Wenn Sie ein Meeting leiten, ist entscheidend, dass auch der gehört wird, der etwas mehr Zeit braucht, der sich verbal vielleicht nicht so geschliffen ausdrückt.

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