Nach Pisa:Der Matthäus-Effekt

Braucht Deutschland eine Gesamtschule?

Jürgen Oelkers

(SZ vom 4.6.2003) Auch nach PISA ist in Deutschland keine Diskussion entstanden, die die Demokratisierung der Schule zum Thema hätte, obwohl - oder weil - gerade die Daten der PISA-Lesestudie darauf verwiesen, dass der wesentliche Effekt der deutschen Schule auf Benachteiligung oder Bevorzugung durch Herkunftsmilieus hinausläuft.

Nirgendwo ist die Spreizung zwischen den besten und den schlechtesten Leistungen der Schüler derart groß wie in Deutschland, und nirgendwo ist die soziale Herkunft einflussreicher. Man ist nachhaltig an den Matthäus-Effekt der Soziologie erinnert, wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird genommen.

Die beiden zentralen Reformthemen in der nationalen Reaktion auf PISA sind Ganztagsschulen und nationale Bildungsstandards, also mehr Zeit und striktere Anforderungen unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass mehr vom Gleichen die beste Lösung sein wird. Aber die Schulqualität entsteht in einem bestimmten System; wenn die Qualität als ungenügend angesehen wird, müssen die Ursachen im System gesucht werden.

Der internationale Vergleich macht deutlich, dass die besten Bildungssysteme über qualitative Unterscheidungsmerkmale verfügen. Es handelt sich um Gesamtschulen mit einem Tagesangebot, die über einen hohen Betreuungsaufwand verfügen, gezielt Förderungen anbieten, die nicht selektiv sind und gleichwohl hohe Leistungen erzielen.

Die deutsche Bildungsadministration weicht der Systemfrage aus und will die Effizienz des bestehenden Systems verbessern, was immer dann gesagt wird, wenn etwas unangetastet bleiben soll. Das hat historisch gesehen Methode, denn die Etablierung einer Gesamtschule für alle Kinder ist in Deutschland zweimal gescheitert, nach 1918 und nach 1945.

Die Einführung der Grundschule im Anschluss an die Reichsschulkonferenz 1920 war gleichbedeutend mit der Reduktion der gemeinsamen Verschulung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, nämlich die ersten vier Schuljahre, was im Prinzip immer noch gilt. Vermieden werden sollte seinerzeit die sozialistische "Einheitsschule", und es ist einigermaßen ironisch, dass gerade Einheitsschulen - nicht-sozialistische - durchschnittlich höhere Leistungen erzielen.

In der Konsequenz des Entscheids vor mehr als achtzig Jahren, der alle deutschen Gesellschaftssysteme mit Ausnahme der DDR überstanden hat, findet die schulische Selektion so früh statt wie in keinem anderen Bildungssystem. In keinem anderen System ist sie auch so unkorrigierbar und mit so weitreichenden Folgen verbunden.

Es ist geradezu Elternpflicht, alles zu versuchen, den Abschluss der Grundschule mit einem Übergang zum Gymnasium oder mindestens zur Realschule zu verbinden, um die Hauptschule als Restschule der "Verlierer" zu vermeiden. Diese Haltung entsteht aus der Privilegienverteilung. Solange das Abitur die höchste Berechtigung ist, die den Hochschulzugang öffnet, und so lange ein Studium als Königsweg für den Eintritt in den Arbeitsmarkt gilt, solange werden die unteren Bildungsabschlüsse massiv entwertet und also gemieden, wo es nur irgend geht.

Dabei ist nicht der Bildungswert entscheidend, sondern der Tausch- und Gebrauchswert, der mit den unterschiedlichen Berechtigungen ungleich verteilt ist. In diesem Sinne sind die PISA-Resultate systemisch gewollt, das Ziel ist nicht eine möglichst hohe Bildungskompetenz für alle, sondern möglichst frühe Selektion, damit gute, mittlere und schlechte Schüler unter sich bleiben können. Nach PISA senkt genau das die durchschnittliche Bildungsqualität, also den Effekt, an dem alle partizipieren.

Das Odium, bis heute

Warum ist dieses starre und ungleiche System nie strukturell verändert worden? Nach dem Zweiten Weltkrieg ist versucht worden, im Zuge der Re-Education einen radikalen Systemwechsel herbeizuführen, nämlich die Etablierung eines nicht-selektiven Bildungswesens nach Vorbild der amerikanischen Highschool. Begründet wurde dieser Systembruch mit dem Beginn der neuen Demokratie, die endlich auch in der Bildung Chancengleichheit realisieren sollte. Unmittelbar nach Neugründung der Bundesländer war diese Idee vom Tisch. Als dann nach 1949 die Einheitsschule in der DDR realisiert wurde, konnte darauf in der alten Bundesrepublik kaum noch Bezug genommen werden.

Die partiell realisierten Gesamtschulen der sechziger Jahre sind immer von dem Verdacht begleitet gewesen, sie seien leistungsfeindliche Produkte sozialistischer Gleichmacherei, ein Odium, das bis heute besteht.

Heute kann aber nicht mehr mit Hinweis auf den Sozialismus darüber diskutiert werden, wie sich die öffentliche Schule entwickeln soll. Andererseits kann man auch nicht einfach fremde Systeme kopieren, und seien sie noch so erfolgreich. Man kann immer nur das eigene System entwickeln, das nie ein zweites Mal komplett neu erfunden wird, wie manche Kommentare unterstellen. Die zentrale Frage ist, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll.

Die Einführung einer echten Gesamtschule in Deutschland würde bedeuten, alle Kinder und Jugendlichen von der Vorschule bis zum Abschluss der Sekundarstufe I, also zwischen vier und sechzehn Jahren, im wesentlichen gleich zu verschulen, während in Deutschland noch nicht einmal das Prinzip der Schulstufen durchgesetzt ist. Die Primarstufe umfasst mit wenigen Ausnahmen nur vier Jahre, es gibt keine verbindliche Vorschule oder Schuleingangsstufe, die Sekundarstufe I ist nach Typen unterschieden, die Gymnasien entziehen sich der Stufung und bieten integrale Programme von der fünften bis zur dreizehnten Klasse an. Weder die Kürzung auf zwölf Schuljahre noch die Einführung von Ganztagsschulen ändert an dieser Struktur etwas.

Die Einführung einer echten Gesamtschule hätte zur Folge, dass im Primar- und Sekundarbereich nicht nur die heutigen Schultypen, sondern auch die Lehrerkategorien verschwinden würden. Die Gymnasien hätten nur noch vier Jahre Schulzeit zur Verfügung, sie würden zu dem, was in der Schweiz "Kurzzeitgymnasium" heißt, das logisch wie symbolisch auf gleicher Stufe steht wie die Berufsschulen. Das würde bedeuten, auf mehr als die Hälfte der heutigen Stellen im Gymnasialbereich zu verzichten, die frei werdenden Mittel könnten anders investiert werden, aber das wäre längst nicht alles.

Es müssten größte Anstrengungen für einen kompletten Systemumbau unternommen werden, die derzeit nicht annähernd absehbar sind, und dies nicht nur wegen der finanziellen Möglichkeiten, sondern mehr noch aufgrund der historischen Mentalitäten.

Niemand würde wirklich wollen oder können, was mit einem Entscheid für eine Gesamtschule nötig wäre. Die Lehrerbildung müsste einen kompletten Wandel erfahren, das vorhandene Personal, eingestellt auf Besitzstandswahrung, müsste gegen seinen Willen umgeschult werden, die Lehrpläne müssten völlig neu geschrieben werden, die Ministerialbürokratie müsste quer zu den bisherigen Laufbahnen neue Aufgaben übernehmen, die Mentalität der Lehrkräfte müsste sich entgegen jahrzehntelanger Statuspflege radikal verändern - und dann hätte man immer noch nicht die Voraussetzungen für die Qualität, die in Finnland oder im besten aller Systeme, der kanadischen Provinz Alberta, erzielt werden.

Der zentrale Wandel nämlich ist der von der Unterrichtsschule zur Angebots- und Förderschule, die mehr bietet als nur Schulstunden. Unterricht wird bekanntlich auch dann abgehalten, wenn niemand etwas lernt. Der Ausfall von Unterricht ist ein Dauerthema im Beschwerdekatalog der Kunden der öffentlichen Bildung, während kaum je gefragt wird, was passiert, wenn der Unterricht stattfindet. Von ihrer Struktur her ist die deutsche Schule eine typische Unterrichtsschule, das Hauptaugenmerk liegt darauf, dass der Stundenplan erfüllt und nicht, welche Qualität erzeugt wird. PISA war ein so großer Schock, weil die gute Qualität vorausgesetzt, nie jedoch ernsthaft geprüft wurde.

Was man "Chancengleichheit" nennt, wird nicht einfach zugeteilt, sondern muss von der Schule gestaltet werden. Es fällt auf, dass in Deutschland lediglich der Begriff benutzt wird, ohne damit eine Praxis zu verbinden; das Postulat wird heftig befürwortet und ebenso heftig verworfen, aber wie genau Schulen darauf reagieren sollen, ist unbekannt. Hier hilft ein Blick über den Zaun: Skandinavische oder auch angelsächsische Bildungssysteme verwenden Förderprogramme, stellen die Lehrpläne auf Standards um, setzen Leistungstests zur Qualitätsentwicklung ein, integrieren die sozialpädagogischen Dienste und versuchen, mit diversen weiteren Maßnahmen, die Milieuunterschiede zu minimieren.

Das alles ließe sich in deutschen Schulen sofort realisieren, und zwar auch dann, wenn keine Gesamtschule eingeführt wird, was politisch wie gesellschaftlich zu erwarten ist. Skandinavische oder angelsächsische Bildungssysteme reagieren mit diesen Maßnahmen auf wachsende Heterogenität der Gesellschaft, die die Schule auffangen und bearbeiten muss, was mit einer reinen Unterrichtsschule nicht möglich ist. Und bevor der typisch deutsche ideologische Streit durch die Koppelung von PISA-Daten und Gesamtschulidee neu angefacht wird, mit der Aussicht, ihn nie entscheiden zu können, sollte überlegt werden, was organisatorisch getan werden kann, die Lernchancen der Schüler zu verbessern.

Eine strukturelle Möglichkeit, für die ich plädiere, wäre die Verlängerung der Grundschule auf sechs Jahres, wie dies heute in Brandenburg und Berlin der Fall ist. Zudem wäre eine zweijährige Vorschule einzuführen, die den Kindergarten ersetzt. Man hätte so eine achtjährige Gesamtschule, die das bisherige System nicht völlig auf den Kopf stellt, aber frühe Förderung mit besserer Beachtung des Gebotes der Chancengleichheit verbinden könnte.

Selbst das wird von vielen Eltern und Politikern nicht gewollt, um die bisherige Privilegienverteilung zu bewahren, aber es ist ein europäischer Standard. Schuleingangsstufen gibt es fast überall, nirgendwo erfolgt die Einschulung so spät wie in Deutschland, und wem schon vor dem Wort "Einschulung" graust, dem sei darauf verwiesen, dass in den ersten Jahren überall in Europa ein sehr individueller und spielerischer Zugang zum Lernen gefunden wird. Warum sich das in Deutschland nicht auch erreichen lassen soll, ist eines der großen Rätsel in der Diskussion. Im übrigen wäre diese Frage ein typisches Thema für eine Volksabstimmung.

Der Autor lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich.

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