Nach dem Abi in die Lehre:Erst mal etwas Handfestes

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Verschiedene Kampagnen bewerben die betriebliche Ausbildung. Ziel ist, mehr Abiturienten ins Boot zu holen.

Von Miriam Hoffmeyer

Schock Deine Eltern! Mach erst mal 'ne Lehre." Der Slogan, mit dem die Industrie- und Handelskammer (IHK) Nord Westfalen Abiturienten in betriebliche Ausbildungen lockt, hat offenbar Erfolg: Mehr als 30 Prozent der Azubis im Münsterland haben inzwischen Abitur oder Fachabitur. Die Werbekampagne hat IHK-Hauptgeschäftsführer Karl-Friedrich Schulte-Uebbing initiiert. "Die Frage war, warum tendieren fast alle Abiturienten zum Studium? Warum kriegen wir es nicht gebacken, dass sie sich für die betriebliche Ausbildung interessieren?", fragt er. "Wenn die Hochschulen stark überlaufen sind, und der Wettbewerb unter den Absolventen immer härter wird, kann eine gute Ausbildung durchaus die besseren Möglichkeiten bieten." 30 000 Fachkräfte würden bis 2030 in Nordwestfalen gebraucht, darunter nur 3000 Akademiker. Ähnliche Imagekampagnen haben viele andere IHKs in ganz Deutschland gestartet, unter Schlagwörtern wie "Durchstarter", "Elternstolz" oder "Karriere mit Lehre".

Bundesweit entschieden sich 2014 gut 26 Prozent der Abiturienten für eine Lehre. Dieser Anteil ist innerhalb von fünf Jahren kontinuierlich gestiegen - vor allem deshalb, weil immer mehr Jugendliche Abitur machen. Zudem gingen in diesem Zeitraum in zahlreichen Bundesländern doppelte Abiturjahrgänge von den Schulen ab. Unabhängig davon ist der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, Friedrich Hubert Esser, davon überzeugt, "dass die duale Berufsausbildung auch weiterhin bei Abiturienten hoch im Kurs steht". Ungünstig sei jedoch, dass diese sich für die parallel laufende Ausbildung in Betrieb und Berufsschule auf so wenige Branchen konzentrieren würden: Fast die Hälfte aller Azubis mit Abitur entscheidet sich für nur zehn Berufe, alle aus dem Dienstleistungsbereich. Am beliebtesten sind Ausbildungen zum Industrie-, Bank- oder Groß- und Außenhandelskaufmann sowie zum Fachinformatiker. Ins Handwerk gehen nur elf Prozent der studienberechtigten Azubis. Auch sie konzentrieren sich auf wenige Berufe, fast die Hälfte wird Fotograf, Hörgeräteakustiker oder Zahntechniker.

Neben der klassischen Lehre bieten viele Unternehmen heute auch duale Studiengänge oder die Kombination mit einer Weiterbildung zum Fachwirt oder Industriemeister an. Mit diesen Varianten können sich Abiturienten in wenigen Jahren für Führungspositionen im Betrieb qualifizieren. "Das ist in den Köpfen aber noch nicht drin", meint Schulte-Uebbing - auch nicht in denen der Eltern, die großen Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder haben. Deshalb sind sie in Wirklichkeit auch die Hauptzielgruppe des scheinbar rebellischen Slogans: Der "Schock Deine Eltern"-Spot lief bevorzugt in den Innenstadtkinos der Stadt Münster, die bei der mittleren Generation beliebt sind.

Alexander Wurzel

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Alexander Wurzel, 19, ist im ersten Jahr seines dualen BWL-Studiums mit Schwerpunkt Groß- und Außenhandel Handel bei Rewe in Eisenach.

Corinna Holstein

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Corinna Holstein, 20, ist im ersten Jahr ihrer Ausbildung zur Augenoptikerin bei Bruchhaus Optik & Akustik in Köln.

Fabian Brand

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Fabian Brand, 20, ist im zweiten Ausbildungsjahr als Mechatroniker bei ABB in Heidelberg.

Drei junge Menschen haben sich entschieden, etwas Handfestes zu machen und sind dabei ganz unterschiedliche Wege gegangen. Sie berichten, was sie zu ihrer Entscheidung geführt hat und wie ihr Berufsleben aussieht:

"Am Anfang haben mich meine Freunde gefragt, was ich bei Rewe will und ob ich den ganzen Tag nur Regale einräumen möchte. Es wird total unterschätzt, dass so ein Supermarkt mit über 30 Mitarbeitern ein mittelständisches Unternehmen ist. Man bekommt schnell Verantwortung: Schon nach ein paar Wochen habe ich alle Kassen allein abgerechnet und verbucht oder bei Lieferanten reklamiert, wenn Waren unvollständig geliefert wurden. Ich denke auch viel darüber nach, warum manche Artikel gut laufen und andere nicht.

Ich wusste schon früh, dass ich etwas Kaufmännisches machen will. Ein reines Hochschulstudium kam für mich nie in Frage, ich bin ein Typ, der gern mit anpackt. Ich habe lange geschwankt zwischen Banklehre und Studium an einer privaten Fachhochschule, an der man in allen Semesterferien Praktika in verschiedenen Unternehmen absolviert. Das finde ich ein cooles Konzept, aber man hat nicht die Sicherheit, nach dem Abschluss übernommen zu werden. Nach einiger Überlegung habe ich festgestellt, dass mir das Banker-Dasein zu abstrakt ist. Der Einzelhandel ist bodenständiger, das passt viel besser zu mir. Man bekommt direkt mit, was die Kunden wollen, und hat im Alltag viel Gestaltungsspielraum.

Natürlich sind die drei Jahre anstrengend! Studium und Praxisphasen wechseln im Drei-Monats-Rhythmus. Nach acht Stunden Arbeitszeit muss ich oft noch an einer Hausarbeit schreiben, und wenn ich Frühschicht habe, stehe ich um vier Uhr auf. Aber ich finde es gut, dass ich von Grund auf lerne. Nach dem Abschluss des dualen Studiums sind die Perspektiven sehr gut. In der Regel arbeitet man ein Jahr lang als stellvertretender Filialleiter. Danach kann ich Filialleiter werden, in die Zentrale oder in den Außendienst gehen oder mich als Rewe-Partnerkaufmann bewerben und selbständig machen."

"Wenn jemand zum ersten Mal seine neue Brille anprobiert und sich freut, dass er wieder klar sehen kann, das ist immer ein schöner Moment! Ich trage selber seit fast zehn Jahren eine Brille. Trotzdem bin ich erst durch Internetrecherche auf die Idee gekommen, diese Ausbildung zu machen. Lange hatte ich keine Ahnung, wie es nach dem Abi weitergehen sollte. Ich habe überlegt zu studieren, aber ich war von keiner Studienrichtung überzeugt. Ich wollte aber nicht irgendwas anfangen und dann wieder abbrechen. Eine abgeschlossene Lehre ist sozusagen etwas Festes, auf dem man aufbauen kann. Während der Schulzeit habe ich ein Praktikum im Buchhandel gemacht, das mir gut gefallen hat, aber diese Branche hat ja nicht viel Zukunft. Und auch wenn man Brillen schon im Internet bestellen kann, glaube ich nicht, dass die Leute ohne Optiker auskommen.

Mein Ausbildungsbetrieb ist alteingesessen und hat nur fünf Mitarbeiter, die Atmosphäre ist familiär, da habe ich Glück gehabt. Ich hätte auch bei einer großen Kette anfangen können. Aber da werden die wichtigen Entscheidungen von Leuten weiter oben getroffen, die mit dem Geschäft vor Ort nicht so viel zu tun haben.

Die Kombination aus Kundenberatung und handwerklicher Arbeit liegt mir, ich habe schon immer gern gebastelt und gezeichnet. Im ersten Lehrjahr muss man noch von Hand Gläser anschleifen, damit man ein Gefühl für das Material bekommt. Da ist handwerkliches Geschick gefragt, man muss supergenau arbeiten. Ich bin auch schon in die Kundenberatung eingebunden und mache unter Aufsicht Führerschein-Sehtests. Die richtigen Sehtests sind das Spannendste an dem Beruf, die dürfen aber nur Augenoptikermeister durchführen. Ich kann mir gut vorstellen, später Meisterin zu werden und vielleicht auch ein eigenes Geschäft zu führen."

"Als Teenager habe ich ständig gebastelt und gelötet: Lautsprecherboxen gebaut, mein Fahrrad repariert, meine Konsole auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Und am Gymnasium war ich im Fach "Naturwissenschaft und Technik" am besten. Es war also klar, dass es in diese Richtung gehen sollte. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich Mechatronik studieren oder eine Ausbildung machen soll. Ich habe mich dann bei älteren Freunden umgehört, Lehrer gefragt und natürlich meine Eltern. Alle meinten, pure Theorie wäre nicht das Richtige für mich. Ich war auch beim Tag der offenen Tür der Uni Karlsruhe, da habe ich mich ein bisschen gefühlt wie auf der Schulbank. Wenn ich etwas lerne, möchte ich nicht nur die Formeln auf dem Blatt haben, sondern gleich den Erfolg sehen: Dieses Rad dreht sich jetzt so, wie ich es will. Dann habe ich auch die Kontrolle, dass ich es wirklich verstanden habe. Mir war auch wichtig, finanziell nicht so abhängig zu sein. Die Studenten unter meinen Freunden beschweren sich oft, dass sie wegen allem ihre Eltern fragen müssen. Als Auszubildender kann ich mir mehr leisten.

Ich habe Zusagen von mehreren Firmen bekommen. Hier bei ABB hat mir die Ausbildungswerkstatt sehr gut gefallen, und dass ich in einem großen Unternehmen viele Möglichkeiten habe. Am Anfang muss man Grundfertigkeiten lernen, zum Beispiel das Feilen. Da habe ich mich manchmal geärgert und gedacht, die anderen sitzen jetzt in der Uni! Im Moment beschäftige ich mich mit Automatisierungstechnik, das finde ich extrem interessant. Im August wechsele ich zum ABB-Standort in Friedberg, der darauf spezialisiert ist. Später will ich mich auf jeden Fall weiterbilden, zum Techniker oder zum Meister. Vielleicht studiere ich sogar irgendwann doch. Ich glaube, nach der Ausbildung stehen einem noch alle Türen offen."

© SZ vom 14.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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