Süddeutsche Zeitung

Mythos Zeitnot:Bin ich gestresst, dann bin ich wichtig

"Ich habe doch keine Zeit!", lautet die häufigste Klage im Büro. Dabei haben wir alle viel mehr Zeit, als wir behaupten - und sind deshalb gar nicht so gestresst.

Julia Bönisch

Treffen wir Verabredungen, sprechen wir von "Zeitfenstern", die wir vielleicht in zwei Wochen wieder frei hätten. Bittet der Chef um den Einsatz für ein Sonderprojekt, stöhnen wir über den zusätzlichen Stress. Und kündigt sich ein guter Freund übers Wochenende an, heißt es: "Sorry, keine Zeit."

Aktuelle Studien scheinen zu belegen, dass die Deutschen unter Zeitnot leiden: Laut einer Untersuchung der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung beklagt jeder zweite Beschäftige, er habe generell zu wenig Zeit. Nur knapp 20 Prozent der Befragten haben demnach genügend davon. Und der verbleibende Rest war vermutlich zu beschäftigt, um überhaupt zu antworten.

Auch das Überangebot an Seminaren mit Titeln wie "Zeit - aufmerksam im Hier und Jetzt", Medienberichte über gestresste Manager, die in Burn-out-Therapien wieder zu sich selbst finden wollen, oder die unzähligen Ratgeber zum Thema Zeitmanagement haben den Tenor: Wir arbeiten zu viel, nehmen uns keine Zeit mehr für das Wesentliche und stehen deshalb enorm unter Stress.

Zeit lässt sich nicht managen

Dabei sind sich Experten, die sich wissenschaftlich mit dem Thema Zeit auseinandersetzen, längst darüber einig, dass sich Zeit nicht managen lässt: Sie ist kein Gegenstand, den man verändern kann, sie lässt sich weder durch minutiöse Zeitpläne oder in Leder gebundene Timer beherrschen. Der renommierte Zeitforscher Karlheinz Geißler glaubt gar, dass sich durch den Verzicht auf Zeitmanagement eine Menge Zeit einsparen ließe. Und eine bewusste "Entschleunigung" hält er als Strategie für schlicht nicht realisierbar.

Doch vielleicht ist eine solche Entschleunigung auch gar nicht nötig. Das legen zumindest Forschungsergebnisse der Soziologin Nadine Schöneck nahe. Die Zeitforscherin hat an der Fernuniversität Hagen zum Thema Zeitempfinden von Erwerbstätigen promoviert und kratzt in ihrer Doktorarbeit am Mythos Zeitstress. Denn ihr wichtigstes Ergebnis lautet: So gestresst, wie die meisten Berufstätigen vorgeben zu sein, sind sie gar nicht.

Ein wertvolles Statussymbol

Gaben die Befragten in der schriftlichen Befragung mit geschlossenen Fragen noch an, ständig unter Strom zu stehen und unter Zeitnot zu leiden, stellten sie ihre Situation in einem persönlichen Intensivinterview plötzlich ganz anders dar. "Die Zeitnot war dann kein großes Thema mehr", sagt Schöneck. "Gerieten die Menschen ins erzählen, stellte sich heraus, dass der Stress bei den meisten Befragten bei Weitem nicht so groß ist wie zuvor angegeben."

Dabei ist dieser Gegensatz den Betroffenen nicht klar, glaubt die Soziologin. "Es geht meistens nicht um eine bewusste Lüge. Diese Menschen haben tatsächlich das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben."

Für das Phänomen macht Schöneck vor allem einen Grund aus: "Zeitknappheit ist ein immaterielles Statussymbol. Sie signalisiert, wichtig und bedeutend zu sein." Wer keine Zeit habe, zeige, dass er geschätzt werde und kostbar sei. Wer dagegen immer erreichbar und immer verfügbar sei, der mache sich in unserer Gesellschaft automatisch verdächtig.

Auf der nächsten Seite: Warum Arbeit und Privatleben der Beschäftigten nicht verschwimmen und die Work-Life-Balance nicht leidet.

Praktische Schutzbehauptung

Schöneck vergleicht das Phänomen mit einem anschaulichen Beispiel: "Wer einen Termin beim Arzt vereinbart und die Sprechstundenhilfe sagt: 'Kein Problem, kommen Sie sofort vorbei', wundert sich, warum der Mediziner nichts zu tun hat. Sofort entsteht im Kopf die Assoziation: Der hat Zeit, also ist er auch nicht gut."

Darüber hinaus sei die Zeitknappheit eine hervorragende Schutzbehauptung: Ein Mitarbeiter, der dem Vorgesetzten glaubhaft versichert, bereits wahnsinnig viel zu tun zu haben, wird von ihm nicht noch mehr Arbeit aufgebürdet bekommen.

Zum dritten, so Schöneck, vermittele unser Umfeld den Beschäftigten den Eindruck, sie müssten unter Zeitnot leiden. "Es ist ein Grundgefühl der Gesellschaft: Nur wer keine Zeit hat, ist sozial angepasst und unauffällig." Denn schließlich behaupten ja alle von sich, ständig beschäftigt zu sein.

Mythen des modernen Arbeitslebens

Schönecks Ergebnisse, die zwar nicht repräsentativ sind, aber doch etwas beschreiben, was die meisten wohl von sich selber kennen oder an Kollegen beobachten, berühren noch weitere Mythen des modernen Arbeitslebens. Schließlich rührt ein Großteil des Stresses von der angeblichen Entgrenzung von Arbeit und Privatleben - und einem Informations-Overkill dank ständiger Erreichbarkeit: Viele Arbeitnehmer, so heißt es, stehen auch deshalb so unter Druck, weil die Grenzen zwischen Büro und Freizeit verschwimmen und sie sich via E-Mail und Smartphone auch abends nach 22 Uhr noch um Geschäftliches kümmern.

Doch wenn die meisten Arbeitnehmer gar nicht so gestresst sind, sind diese Thesen dann überhaupt haltbar? Mit diesen Fragen hat sich Schöneck nur am Rande beschäftigt. Doch sie glaubt, dass die Diskussion darum mehr von Schlagworten denn von Tatsachen geprägt ist. "Sowohl der Informations-Overkill als auch die Arbeitszeitflexibilisierung sind für die Befragten kein großes Thema. Sie empfinden die Aspekte bei weitem nicht so dramatisch wie in den Medien dargestellt."

Vom Bild des immer gehetzten Mitarbeiters sollte sich die Gesellschaft also verabschieden - und die Zeitnot als das akzeptieren, was sie häufig ist: eine Ausrede, um sich vor unangenehmen Aufgaben zu drücken.

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